Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
diesen falschen Enthusiasmus bezahlt werden. Sie wurde entlassen, kehrte nach Hause zurück und wartete darauf, dass etwas geschah. Doch es geschah rein gar nichts. Keine Verdächtigen. Keine Verhaftungen. Es blieb eine verhängnisvolle Nacht, in der auf einem College-Campus etwas schiefgegangen war. Böser Streich von Burschenschaftlern. Schluck die Erinnerung herunter und bekomm dein Leben in den Griff.
Ihre Prellungen heilten und verschwanden.
Sie tastete mit dem Finger über eine kleine weiße Narbe am Augenwinkel. Die war geblieben.
In ihrer Familie hatte es keine Gespräche über das Geschehene gegeben. Sie kehrte in die Keys zurück und stellte fest, dass alles beim Alten geblieben war. Sie wohnten immer noch in einem Massivhaus, mit Meeresblick im Obergeschoss und Deckenventilatoren gegen die Schwüle. Ihre Mutter ging immer noch ins Restaurant, um dafür zu sorgen, dass der Limettenkuchen frisch war und dass die Muscheln in schwimmendem Fett frittiert wurden – dass alles ordentlich hergerichtet war, bevor sich die Touristen und die heimischen Fischer am Tresen drängten. Die Routine von Jahren hatte sich während ihrer Abwesenheit nicht verändert. Sie kehrte auf das Boot ihres Stiefvaters zurück und half ihm bei der Arbeit, als wäre nichts geschehen. Sie entsann sich, wie sie zur Laufbrücke hinaufsah, wo er wie ein Fels in der Brandung stand, durch die Sonnenbrille in die grünen Wellen starrte und nach Beute Ausschau hielt, während sie den Kunden aus dem Cockpit Bier besorgte, über deren schlüpfrige Witze lachte, Köder auf die Haken spießte und darauf wartete, dass etwas geschah.
Sie rückte sich die eigene Sonnenbrille gegen das blendende Licht auf dem Highway zurecht.
Doch ich hatte mich geändert.
Sie hatte sich angewöhnt, ihrer Mutter Briefe zu schreiben, auf dem leicht parfümierten, lila Notizpapier, das sie sich in der Drogerie im Ort besorgt hatte. Sie hatte das Bedürfnis, ihrem Herzen Luft zu machen und all die Kränkungen, die verletzten Gefühle über das, was passiert war, aufzuschreiben, so dass der Kugelschreiber auf dem dünnen Papier unter den Tränen verfleckte. Irgendwann schrieb sie nicht mehr über die Verletzung, das Loch, das diese gesichtslosen Männer in ihr Innerstes gerissen hatten, sondern über die Welt, das Wetter, ihre Zukunft, ihre Vergangenheit. An dem Tag, an dem sie zur Aufnahmeprüfung an der Polizeischule ging, hatte sie geschrieben: Ich kann Dad nicht zurückbringen … doch sie fühlte sich besser, nachdem sie dieses Gefühl zu Papier gebracht hatte, wie vorhersagbar es auch war.
Natürlich schickte sie keinen dieser Briefe ab oder zeigte sie auch nur einer Menschenseele, sondern sammelte sie in einer Kunstledermappe. In letzter Zeit war sie dazu übergegangen, in diesen Briefen ihre Fälle zusammenzufassen und all ihre Mutmaßungen und Hypothesen niederzuschreiben, die sie aus den offiziellen Meldungen und Berichten heraushielt. Manchmal fragte sie sich, was für ihre Mutter, wenn sie diese an sie gerichteten Briefe je in die Hände bekommen hätte, schockierender gewesen wäre – das, was ihrer Tochter widerfahren war oder womit sie als Polizistin konfrontiert wurde.
Sie führte sich das alte Ehepaar am Tarpon Drive vor Augen. Die hatten nie eine Chance, dachte sie. Zweifellos wussten sie, was sie hervorgebracht hatten. Oder hatten sie geglaubt, sie könnten einen Blair Sullivan auf die Menschheit loslassen und nicht dafür bezahlen? Jeder bezahlt.
Shaeffer dachte daran, wie sie das erste Mal den schweren Colt .375 Magnum, die Standardwaffe der Hilfssheriffs in Monroe County, in der Hand gehalten hatte. Das Gewicht des Revolvers gab ihr ein beruhigendes Gefühl und zugleich die Gewissheit, nie wieder zum Opfer zu werden.
Sie trat leicht aufs Gaspedal, und schon schoss das nicht gekennzeichnete Polizeiauto los, bis es mit siebzig, achtzig Meilen pro Stunde durch die Mittagshitze brauste.
Am ersten Übungstag hatte sie bei sechs Schuss ein Mal ins Schwarze getroffen, am nächsten Tag zwei Mal. Als sie die sechswöchige Ausbildung abschloss, drängten sich alle Projektile dicht an dicht in der Mitte. Danach hatte sie mindestens einmal die Woche weitertrainiert. Seitdem hatte sie sich noch mit weiteren Schusswaffen vertraut gemacht, einer kleineren Automatik sowie der Riot Pumpgun, die zur Ausrüstung jedes Streifenwagens gehörte. In letzter Zeit hatte sie am Schießstand mit einer M-16 aus Militärbeständen umzugehen gelernt und sich für den
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