Der Symmetrielehrer
Ereignis die Grenze zu den guten alten Zeiten ihrem Gedächtnis eingekerbt. »Das war noch vor der Abreise des Doktors«, seufzten sie. Oder: »Und das ist schon nach seiner Abreise passiert.«
Aber was kümmert das uns. Genausowenig wie Robert Davin, der in Europa zur Weltberühmtheit heranwuchs, unzählige Schüler und Theorien in die Welt setzte und beinahe Freud höchstselbst in Bedrängnis brachte, der uns ebenfalls nicht kümmert. Nicht einmal an Davin erinnert hätten wir uns, wären uns nicht unlängst Informationen unter die Augen gekom
men, die mit dem Turiner Grabtuch zu tun haben. Hier ist weder der Ort noch die Zeit, um eine Nacherzählung der Problemgeschichte zu liefern, deren Kernpunkt die Erörterung bildet, ob das Gewebe echt sei, das wie auf einem Negativ eine Darstellung Christi bewahrt hat (Interessierte verweise ich auf die weithin bekannten Aufsätze von Dr. Paul Villon, Dr. David Fox u. a.). Ungefähr zur Zeit unserer Erzählung wurde das Grabtuch zum erstenmal photographiert, und auf dem Negativ war eine positive Abbildung zu sehen. Diese Sensation führte zu zahlreichen, streng wissenschaftlichen Überprüfungen dessen, woran die Menschen im Verlauf von fast zwei Jahrtausenden nicht gezweifelt hatten. Die meisten Diskussionen, Nachforschungen und Artikel zu diesem Thema fielen in das Jahr, als das Grabtuch zur allgemeinen Besichtigung ausgestellt wurde. Ich führe nur zwei Beweisgründe zugunsten der Echtheit der darauf bewahrten Darstellung und der Realität von Christi Geschichte an. In diesen Beweisgründen steckt so ein besonderes, schwindelerregendes psychologisches Gefälle. Der erste Beweisgrund: dass die Idee des Negativs erst mit der Erfindung der Photographie bekannt wurde und kein einziger Künstler, selbst ein Kenner der Photographie, imstande wäre (rein technisch), nach dem Positiv ein Negativ darzustellen. Und der zweite: dass das Grabtuch selbst und die linnenen Verbände (Binden), die es umhüllten, in Form eines Kokons erhalten sind, ihre Hülle ist überhaupt nicht angetastet, und es lässt sich durch keinerlei natürliche Aktionen erklären, dass sie nicht zerwühlt und nicht beschädigt sind, nur durch die Himmelfahrt. Christus wurde nicht aufgewickelt. Er verschwand daraus.
Ja, und als wir diese Informationen durchsahen, stießen wir auf eine Reaktion des berühmten Dr. Robert Davin. Schon das ist merkwürdig, dass er vom Gipfel seiner Autorität herabgestiegen war und sich in diese für Wissenschaftler seines Ranges äußerst zweifelhafte und dem Ansehen abträgliche, wenn nicht gar rufschädigende Diskussion eingemischt hatte, und um ihren Ruf ist jede Autorität ja um so stärker und skrupulöser besorgt, je höher sie steht. Noch interessanter ist jedoch,
dass Dr. Davin in diesem Fall nicht nur vergessen hatte, auf die Autorität des großen Gelehrten bedacht zu sein, sondern schlicht und einfach ungehörig in Wallung geriet, indem er (auf das von ihm beschriebene klassische Gummi-Syndrom verweisend) sogar einen so absolut glaubenslosen und grundsoliden Wissenschaftler wie den Anatomieprofessor Dr. Hovel bezichtigte, nicht normal zu sein, dabei hatte dieser lediglich als Anatom bestätigt, dass jegliche Aktion zur Freilegung von Christi Leichnam aus dem Grabtuch das Gewebe unmöglich in der Art und Weise hätte hinterlassen können, wie es sich bis zu unseren Tagen erhalten hat. Wobei interessant ist, dass die Logik – ein Werkzeug, über das Dr. Davin immer machtvoll und unwiderlegbar verfügt hatte – ihn hier gleichsam in Stich lässt, die Beweisgründe werden vom direkten Druck auf den Opponenten verdrängt und die Schlussfolgerungen von einem Pathos, das ungefähr auf die Formel hinausläuft: »Das kann nicht sein, weil das nie und nimmer sein kann«.
Aber auch seine Sicht auf die Echtheit des berühmt-berüchtigten Grabtuchs beschäftigt uns wenig. Einzig diese seine persönliche Betroffenheit bei diesem Thema hat uns interessiert und veranlasst, dass wir uns darüber klarzuwerden suchten.
Am Ende eines Satzes
(The Talking Ear)
Aus dem Buch »Die Fliege auf dem Schiff«
von Urbino Vanoski
Zum Gedenken an Anton O.
Wenn sich alles bewegt, bewegt sich
zugleich alles nicht, wie zum Beispiel
die Fliege auf dem Schiff.
Pascal
G estern war es noch sonnig, und ich schaute mir den prächtigen Sonnenuntergang an. Die Sonne sank direkt ins Meer. Sie plattete ab, wurde oval, gerade dass sie nicht gezischt hat … Dafür pfiffen und zeterten
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