Der Symmetrielehrer
irgendwie freudig und zugleich panisch die Vögel. Ich weiß, das machen sie jedesmal, als ob sie nicht glaubten, dass die Sonne morgen wieder aufgeht. Ich weiß das sehr wohl, dabei, wieviel seltener bin ich Zeuge der lebendigen Sonne gewesen als die Vögel!
So etwas ist auch schwer ins Auge zu fassen: welches das erste Mal ist und was das letzte … Fasst man die Zeit ins Auge, so hat der Mensch davon keinen Begriff. Untergegangen, ja, aber wird sie wieder aufgehen? Wir sinken in Schlaf. Werden wir aufwachen?
Ich jedenfalls wachte auf, von dem gleichen Vogelgeplapper, einem weniger freudigen als erstaunten, aber noch wütenderen: keine Sonne, kein Meer, kein Himmel. Die grauen Mauern der Festungsmauern und sonstigen Ruinen waren verschmolzen mit all dem Nichtvorhandenen und zergangen wie Salz. Nur die kaum sich abzeichnende Masse des Marien
doms schwamm mir zum Fenster herein wie der Bug eines auf ein Riff gelaufenen Schiffes. Vom Glockenturm klang wie ein Stundenglas kühlfeucht die Morgendämmerungsstunde, fünf Uhr früh, und mit jedem Glockenschlag zeichnete sich deutlicher ein Baumzweig mit unziemlich freudigem jungem Laub und einem dicken, nicht singenden Vogel ab. Die singenden dagegen, immer die kleinen, waren im Laub nicht zu sehen.
Genau mit dem siebten Schlag vom Glockenturm beendeten sie ihr Morgenwerk, und es brach Stille an.
Ich bin auf einer Insel, wenn auch einer schwedischen, und hier ist mir alles verständlich. Ich bin hergereist, um meinem russischen Sujet näher zu sein. Russland liegt gegenüber …
Einfach nicht in den Griff bekomme ich dieses Sujet … mag sein, weil es russisch ist? Russisch oder aus Russland??
In Russland gibt es keine Sujets [ 4 ] – nur Weite. Wie es auch keine Sujets gibt im Ozean. Robinson oder Stevenson sind da kein Beweis – Engländer wie wir, setzten sie ihre Sujets auf Inseln aus. Im Ozean gibt es keine Sujets, so wenig wie in Russland; die Erfahrung kann sich auf nichts stützen, nirgends ein Rand, die Tiefe bodenlos. Für ein Sujet ist zuallererst der Raum zu schließen. Wie im Theater. Wie bei Shakespeare. Obgleich – unlängst haben sie bei uns einen erstaunlichen Amerikaner entdeckt. Dabei dürfte es dort von Haus aus keine Literatur geben! jedoch … Er wollte unbedingt zu uns nach England, schaffte es nicht, da haben sie ihn bei sich fertiggemacht, ihn nicht anerkannt, diese Yankees. Dabei ist ihm der Ozean gelungen!
Und zwar deshalb, weil der Autor seinen Helden gefunden hat – sein Held ist ein Wal, dazu ein weißer [ 5 ] . Groß und einsam wie eine Insel. So eine lebende schwimmende Insel, die vernichtet werden muss, weil es so etwas nicht geben darf … Nein, ohne Insel geht's einfach nicht! Ein Schiff ist ebenfalls eine schwimmende Insel, ebenfalls weiblichen Geschlechts, somit handelt unsere ganze Seeräuberliteratur nicht vom Ozean, sondern von Inseln, weitab von Großbritannien.
In Russland gibt es keine Inseln. Dort, wo die Inseln anfangen, bricht es ab, dieses Tatarien. Irgendwo in Japan. Darum hat es auch den Krieg verloren gegen die Japaner. [ 6 ]
Im übrigen bin ich nie in Russland gewesen, ich kann das nicht beurteilen. Mag sein, Nomaden empfinden ihre Steppe als Ozean und ihre Pferde als Boote. Dann sind sie ewig auf großer Fahrt, und ihre gesamte Literatur, falls sie eine haben, ist ebenfalls Seeräuber- oder eher noch Banditenliteratur. Die ich im übrigen nicht gelesen habe. Ich habe nur »Krieg und Frieden« gelesen. Ein außerordentliches Buch natürlich, aber schon sehr dick. Wie Russland. Es heißt, die Frauen dort seien sehr schön. Hélène, Natasha … Warum sprechen sie nur soviel Französisch?
In Russland bin ich nie gewesen, habe mich aber sehr gut mit einem Russen unterhalten, und er hat mir derart viel Sinniges und Unsinniges erzählt, dass das Land in meiner Erinnerung zu einem Inselchen zusammengeschnurrt ist, welches in diesen nach wie vor unfasslichen Weiten schwebt, und diese Erinnerung peinigt mich, ich möchte sie gerne loswerden, indem ich sie in ein mehr oder weniger normales Sujet umsetze.
Mein Erzähler – nennen wir ihn Anton wie der gerade bei uns in Mode kommende Chekhov – strandete kurz vor dem Ersten Weltkrieg in einem Londoner Pub, wo auch ich manchmal einkehrte, wenn es mir gelungen war, wenigstens irgendwas zu Ende zu schreiben, und ich, als Honorar vom Himmel, das Recht erlangt hatte, etwas zu trinken.
Anton sprach nicht schlecht Englisch, mich bezauberte die
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