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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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außerordentliche Musik seiner Aussprache und, wie sich zeigte, seines Geistes. Bei einem Pint ihm zuzuhören war geradezu betörend, als geriete ich nicht in russische, sondern in Carrollsche Räume; während sich bei Carroll allerdings die Wahrheit in Phantasiegebilde verkleidet, fand bei meinem Russen, im Gegenteil, jede Unwahrheit in seinem eigenen Leben Bestätigung, und das Phantasiegebilde verkehrte sich plötzlich in Realität. Ich will mal versuchen, alles in solcher Nicht folgerichtigkeit darzustellen, womöglich lässt sich ja mittels geduldigem Voranschreiten der Darstellung aus dem ganzen Brei (Anton benutzte gerne den Ausdruck »Brei kochen«, to boil porridge , offenbar wortwörtlich aus dem Russischen) zuletzt doch ein nichtexistentes russisches Sujet kochen.
    Bei unserer ersten Begegnung bezeichnete sich dieser Sibirier aus dem Dorfe Fathers (Batki) [ 7 ] als Mitglied der Expedition von Captain Robert Scott [ 8 ] (was die Leute nicht alles über sich zusammenfaseln im Pub!). Ganz Britannien war über die Umstände seines Todes und die Ankunft der sterblichen Überreste der Expedition erschüttert. Ich glaubte meinem Trinkkumpan nicht, zu Unrecht, denn bei unserer nächsten Begegnung führte Anton bescheiden die Medaille vor, die ihm von Ihrer Majestät gerade ausgehändigt worden war. »Dazu noch ein wertvolles Geschenk!« berichtete er, nun bereits stolz; es zu zeigen lehnte er jedoch rundweg ab, ebensowenig teilte er mit, worin sein Wert bestand. »Sonst vertrinke ich es und bringe es nicht bis nach Batki!« erläuterte er standhaft. Aber nun zweifelte ich nicht mehr an der Existenz des Geschenks.
     
    Zur Expedition angeheuert hatte ihn Leutnant Bruce in Wladiwostok; er sollte in Harbin, einer damals russischen Stadt, mandschurische Pferde ankaufen. Davon verstand er etwas, von kräftigen, kompakten, frostbeständigen Ponys, insofern er im Lauf einiger Saisons Schafsherden getrieben hatte – ob nun in die Mongolei, ob aus der Mongolei … Die Mongolei, ist das in Sibirien?
    Nein, das sei im Poltawagebiet, erwiderte er, und ich verstand den Scherz nicht. Also liege die Mongolei im Poltawagebiet? »Er weiß nicht, wo das Poltawagebiet liegt!« Anton lachte. »Das ist doch dort, wo Batki liegt!« Mir drehte sich allmählich der Kopf, und wir tranken auf Fathers. »Na schön«, ließ er sich gnädig herab. »Die Mongolei, das ist nicht China, ladno!« – »Ladno?« – »Ladno, das ist okay, klar?« – »Okay, das ist American, mir gefällt ladno besser.« Wir prosteten uns zu.
     
    My God! Wo ist nur das Sujet! Ein jedes Sujet hat mit einem Porträt anzufangen. Aber versuche mal einer, meinen Anton zu beschreiben … Auch sein Porträt ist sujetlos, niemandem gleich, aber auch nichts gleich. So ein unbehauener weißblonder Klotz. Allerdings denkend, und zwar sehr.
    Er schien übermäßig offen zu sein, aber je mehr er sich öffnete, desto undeutlicher wurde mein Bild von ihm, es verschmolz mit dem Bild des Landes, das er repräsentierte.
    Darin verliert alles irgendwie seine plotnost [ 9 ] , also seine Dichte und Körperlichkeit, alles zerfließt in Erwägungen und Erörterungen, Zerpflückungen und Zergliederungen (statt Gedanken und Ideen), die ihrerseits, je mehr sie sich einer Schlussfolgerung, zaklyucheniye [ 10 ] , nähern, endgültig in unkörperlicher Plotnostlosigkeit aufgehen.
    Ein paar Formulierungen hat mir Anton allerdings wie Nägel ins Bewusstsein gerammt, und daran hängt für mich nun dieses ganze Leintuch des unermesslichen Russlands, mit dünn gesäten Haltestationen, wo mal das nächste Bier einen Gedanken geleitet, mal der Gedanke zum nächsten Bier hinleitet: zaklyucheniye als conclusion und conclusion als imprisonment .
    »Wenn das Gefängnis der Versuch des Menschen ist, den Raum durch die Zeit zu ersetzen, so ist Russland der Versuch Gottes, die Zeit durch den Raum zu ersetzen!«
    Die Formel gefiel mir, ich besann mich auf die Newtonschen Gesetze und erhob Einwände.
    »Sie werden noch Archimedes mit seiner Badewanne aus der Versenkung holen!« unterbrach mich Anton sofort. »Darum geht es doch gerade, dass die Grenze zwischen Raum und Zeit existiert! Und mit allergrößter Deutlichkeit kommt diese Grenze in Russland zum Vorschein.«
    Solche Scholastik raubte mir die Fassung.
    »Na, und wo verläuft diese Ihre Grenze?« stichelte ich.
    »Darum geht es doch, dass sie beweglich ist. Wie ein Kolben oder wie eine Membrane. Noch am beständigsten den Ural und den Kaukasus

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