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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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ich, außerhalb der Poesie, kein einziges rundweg wahrhaftiges russisches Buch nennen, ausgenommen das »Wörterbuch der lebendigen großrussischen Sprache«, das verfasst wurde von dem Dänen Dahl. Wahrhaftig ist bei uns nur die gesamte Sprache.
    Ich komme zu dem Schluss, dass das Russisch der Literatur sich noch nicht die gleichen Freiheitsstufen erdient hat wie unsere Sprache, dass es seiner Natur nach schüchtern und jungfräulich ist wie ein Landpomeränzchen des neunzehnten Jahrhunderts. Weshalb auch alles, was unsere gesamten natürlichen Funktionen betrifft, in eine spezifische und großartige, verbotene Mündlichkeit ausgesondert wurde, in den sogenannten »Mat«. Der aber unterliegt der Zensur. Deshalb auch finden Sie in unserer Schönen Literatur nichts von dem, was alle am meisten interessiert, nichts Interessantes. »Was Interessantes« klingt in solchem Kontext bereits unanständig, wie jeder Versuch einer literarischen Unterschiebung. Da sei noch einmal gesagt, dass der Mat viel schicklicher ist
als sämtliche Versuche eines anständigen Ersatzes, dass hässlich gerade nicht sein Gebrauch ist, wo er passt, sondern die pathologische Reaktion auf den Mat, die hinter jedem Wort die entsprechende bildliche Vorstellung abruft. All diese intimen Stellen , Schoß und Gemächt , all dieses sich bemächtigen , durchdringen , erkennen , das ist weitaus widernatürlicher als unser Mat, widerlicher und sogar unzüchtiger (das ist ein Wörtlein, wie ein Wachposten ragt es an der Grenze des einen wie des anderen!). Im Falle von Tired-Boffin tröstet mich lediglich eine gewisse altmodische Verhaltenheit seiner Beschreibungen. So bleibt mir, zusammen mit ihm und seinem Helden, allerhöchstens, un t er den Rock zu gucken, und zusammen mit der Heldin, mich hinzugeben (im vorliegenden Fall dem, was bei dem Text rauskommt).
    Infolge der eigenen Erfahrung mit dieser ganzen Ausländerei zieht der Übersetzer den patriotischen Schluss, dass es sowieso keine bessere Literatur gibt als die russische, weil keine einzige sich mit der gleichen Aufrichtigkeit der stets erneut geflickten Jungfräulichkeit der Muttersprache hingibt (wie eine Huri im mohammedanischen Paradies). So dass die sogenannte Unübersetzbarkeit ambivalent ist: nicht deshalb unübersetzbar, weil die andere Sprache schwer wiederzugeben ist, sondern deshalb, weil deine eigene in keine andere übersetzbar ist.
     
     
    1. Ris
    Ich dachte, schon vergessen habe
Das Herz die Leidensfähigkeit.
Ich sagte, was einst war, geschehe
Ja nicht erneut! ja nicht erneut!
    Alec Cannon
     
    Urbino Vanoski, noch ungenügend, doch schon bekannter siebenundzwanzigjähriger englischer Dichter gemischt polnisch-holländisch-japanischer Herkunft (in zweiter, dritter und vier
ter Generation), der keine einzige dieser Sprachen konnte und kein einziges seiner Heimatländer jemals richtig besucht hatte, Verfasser des beinahe skandalträchtigen Gedichtbands »Nachtvase« (eine unübersetzbare Wortverbindung, am ehsten noch als »Vase des Nachts« zu verstehen), welcher jedoch keinen Anklang fand, außer vielleicht mit dem Poem »Donnerstag«, das später in eine repräsentative Anthologie aufgenommen wurde – ein trauriges Gedicht, offenbar Ausdruck persönlicher Erfahrungen des Verfassers, beispielsweise in Zeilen wie:
     
    Ich liebe nur die eine bin ein treuer Mensch
im Grunde
voll Ungeduld erwart' ich meine Frau
allein und ohne Ehemann
zum Rendezvous im Hauseingang im Kino
im Regen
Vergangenheit gibt keine Garantien
wir können niemals sagen was gewesen ist
das sei gewesen …
     
    usw. usf., also, ebendieser Vanoski, der entschieden hatte, irgendwas nicht überleben zu können, ob Ruhmlosigkeit oder ob sonst ein Drama, und Schluss zu machen, doch entschiedener als einfach mit dem Leben, nämlich mit seinem Leben, indem er es von Grund auf umgestaltete, bis hin zu seinem Namen, nach Art jener japanischen Dichter, die gegen vierzig, wenn sie alles erreicht haben, dieses Alles hinwerfen und verschwinden, sich verflüchtigen, und, wenn sie Armut und Inkognito erlangt haben, ihren dichterischen Weg bei null anfangen, noch niemandem bekannt, doch höchstwahrscheinlich schon Genies … Da er verliebt war in Bashō und ihn, passend und unpassend, ständig zitierte, drehte und wendete er seinen früheren, ohnehin verschollenen Namen, schließlich gelang ihm eine mehr oder weniger menschliche Verbindung aus fast denselben Buchstaben: Ris Vokonabi. (Das erinnerte ihn an etwas aus der

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