Der Symmetrielehrer
Urbino an einem Ufer gelandet, wo er erblickte, was er gewollt hatte.
Das Ufer war abschüssig, doppelt mannshoch und verdeckte zunächst die Aussicht. Marleen führte ihn einen im Sand festgetretenen Einsturz entlang, der mit angenehmen, fleischigen Sandpflanzen überwachsen war (Steinbrech nannten sich die wohl zu Kinderzeiten); oben öffnete sich der Blick auf das Inselchen, gleichsam eine riesige Sicheldüne, die ringsum mit niederen Krüppelbäumchen bewachsen war, und auf dem Gipfel stand, bis zur Wasserlinie im Sand steckend, eine riesige Segelfregatte. Urbino war entzückt. ›Kein Wunder, dass das Kamel Wüstenschiff genannt wird!‹
Das war die Hazienda. Sie erinnerte auch an ein Kamel, hieß aber »Bermuda«. Was Marleen ihm nicht vorbellen konnte, sondern die Gastgeberin ihm kundtat.
2. Lili
»Das hat uns der letzte Tsunami geschenkt.«
»Das beste Denkmal für das Element, welches man sich überhaupt vorstellen kann«, säuselte Urbino. »Ein Denkmal für das Meer. So etwas sehe ich zum ersten Mal.«
Den Empfehlungsbrief steckte sie achtlos in die Schürzentasche.
»Ich weiß ohnehin, was drinsteht. Die Baronesse hat mir schon alles erzählt.«
»Wie hat sie es geschafft, mir zuvorzukommen?« wunderte sich Urbino. »Ich habe fast drei Tage bis hierher gebraucht, und wie ich annehme, haben Sie hier keinerlei Verbindung.«
»Sind Sie jeder Verbindung derart überdrüssig?« spöttelte die Gastgeberin.
»Darum bin ich ja hergekommen«, erwiderte Urbino reserviert.
»Gehen wir in die Offiziersmesse. Ich mache Ihnen was zu essen, zeige und erzähle alles. Marleen, Platz!«
Urbino war verdutzt über den veränderten Tonfall, den Wechsel von Konversation zu Befehl. Die Hündin war nicht verdutzt, sondern beleidigt; sie mochte absolut nicht, fügte sich aber sofort.
In der Offiziersmesse war es sehr gemütlich. Alles noch wie auf einem Schiff, zugleich spürte man die weibliche Hand: Töpfe und Pfannen gewienert wie die Haltestangen an Deck, Bunde einheimischer Kräuter. Plötzlich ein Tierbalg, etwas zwischen Biber und Hase, mit Gänsefüßen und mit Hörnern wie die eines Zickleins.
»Was ist das für ein Teufel?«
»Ein gewöhnlicher Hase mit Hörnern.«
»Wie – kommen solche hier vor?«
Die Gastgeberin lächelte. »Jetzt nicht mehr, sie sind ausgestorben.«
»Amüsant …«
»Das stammt nicht von mir, das ist Marleen, meine Schwester. Das ist ihr Kalauer. Ihr Teufel.«
»Sehr kajütlich hier bei Ihnen«, kalauerte seinerseits Urbino.
»Alles dank Happenen, er hat umfassend renoviert.«
Unter ihnen polterte es, als wäre etwas umgefallen. Urbino zuckte zusammen. ›Was kümmert mich die blonde Bestie!‹ dachte er gereizt und fragte:
»Hören Sie, ich bin bereits verwirrt. Wo ist Ihre Marleen? Wer ist Happenen?«
»Gut, der Reihe nach. Marleen ist unten. Das muss so sein. Sie musste isoliert werden. Hat Ihnen die Baronesse das nicht erzählt? Sie ist doch der behandelnde Arzt. Wir sind Zwillinge. Nein, nicht die Baronesse und ich. Eineiige, aber verschieden. Vielleicht, weil wir unterschiedlich aufgezogen wurden.«
»Wie – unterschiedlich? Sie müssten doch denselben Vater und dieselbe Mutter haben?« fragte er.
Die Gastgeberin dachte nach. Urbino ebenfalls.
»Eigentlich wollte ich das nicht gleich erzählen. Die Baronesse weiß also das Arztgeheimnis zu wahren. Unser Vater hat uns verlassen, die Mutter starb bei der Geburt. Wir wurden ausgesetzt. Marleen nahmen Zigeuner auf, ich wurde im Kloster erzogen. Als wir beide achtzehn waren, machte uns ein Sachwalter ausfindig. So etwas wie eine kleine Erbschaft … wir taten uns zusammen.«
Die Miene der Gastgeberin drückte Nachdenklichkeit oder Traurigkeit aus – unklar, was.
»Mehr will ich darüber nicht … Ja, Happenen. Das hier war ein Schulschiff.« Dazu ließ sie sich bereitwillig auf Erklärungen ein. »Er war Midshipman, doch quasi Kapitän. Nach dem Schiffbruch zerstreuten sich die Seekadetten, die gerettet wurden, in alle Winde, er aber konnte sich vom Schiff nicht trennen. Er ist ein geschickter Zimmermann und hat alles für das Leben an Land hergerichtet, aber die Flottenromantik erhalten.«
»Hat für ein reiches Takelwerk gesorgt«, witzelte Urbino nicht ohne Angeberei, dank einem seiner unabgeschlossenen Ausbildungsgänge.
»Takelwerk, ein schönes Wort. Höre ich zum ersten Mal. Sogar in Kreuzworträtseln ist es mir nicht begegnet.«
»Vom Takelwerk hängt es nicht zuletzt ab, mit wieviel
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