Der Symmetrielehrer
Konstruktion des Lebens. War nun Puschkin zu ungeduldig und schaffte nicht alles, oder haben wir ihn bis heute nicht verstanden? Jaja, »Pique Dame«, das ist doch diese Oper, und die »Hauptmannstochter« diese Erzählung für Kinder …
Für Kinder … Die Märchen! ich habe die Märchen vergessen. Da ist bei uns das Sujet ausgearbeitet. Nicht umsonst fühlte sich Puschkin so zum Märchen hingezogen. Wer weiß, vielleicht sind »Das kreisrunde Brot« und »Die Rübe« älter als das tatarisch-mongolische Joch?
Und überhaupt, auf die große russische Literatur entfallen nicht mal ganz hundert Jahre, vom reifen Puschkin bis Alexander Blok, und schon ist der Umsturz von 1917 da und ertränkt alle kaum aufgekeimten literarischen Sujets im Blut der realen.
Es gibt also bei uns keine Sujets! Nicht mal in der Erbfolge von zumindest drei Generationen haben sie es geschafft, sich zu setzen. Immer noch sind alle unsere Sujets nur im Wortschatz unserer »großen und mächtigen, wahrhaftigen und freien« Sprache beschlossen. Immer noch leben wir in der Sprache und nicht im Sujet, in der Suppe und nicht im main course (im ersten und nicht im zweiten Gang), doch essen wir dazu Brot und trinken dazu Wodka, als wäre das die Wahrheit. Sujets sind für uns immer noch Lügenmärchen,
Schwindelei, Unwahrheit, »sowas kommt im Leben nicht vor«. Immer hätten wir es gern ehrlicher. Und warten. Doch übersetzte Schmöker, die lesen wir gern. Weil – die dürfen das ja, weil – das ist ja nicht die Wahrheit, ist ja nicht über uns, sondern über die . Aha, die sind also auch Menschen. Wieder diese doppelte Moral.
Tja, und unsere russische Sprache, ist die wirklich so frei? Wie sehr sie sich auch mit fremdländischen Wörtern vollgesogen hat, fehlt es ihr doch immer noch an Begrifflichkeit (ein Begriff ist, als Wort, ja auch das Ende eines gewissen »Gedankensujets«, bringt es auf den Punkt). So dass unsere Sujetlosigkeit auch noch aus dem Fehlen eines gewissen Endgedankens, eines Modells besteht. (Obgleich das westliche, bis zum Automatismus, bis zur Schablone ausgearbeitete Sujet womöglich schon vom Fehlen eines jeglichen Gedankenmodells zeugt.) Deshalb auch Shakespeare und Dostojewski, doch nicht Tolstoi und Proust, denn erstere übertrugen das Modell des Lebens auf die Bühne, letztere in die Allgemeingültigkeit. Wieso eigentlich Hamlet?! fragte aufgebracht Tolstoi. Könnte man doch Erfahrung bündeln, Fremdes als Eigenes akzeptieren. Aber während Prosa sich noch übersetzen lässt, Poesie nur sehr annähernd, lässt sich die eine Mentalität in die andere oder das siebzehnte Jahrhundert ins zwanzigste nicht übersetzen. Wieder war Puschkin der einzige, der das seinerzeit zu überwinden verstand.
Wenn ich nun über die Übersetzungsschwierigkeiten in diesem Kapitel Klage führe, meine ich vor allem die Begrifflichkeit des sogenannten Sexuellen. Damit ist ja nun jedes Volk mehr oder weniger gleichberechtigt befasst! Um so mehr das russische. »Es f … alle, wer nicht faul«, wie Barkow gesagt hat. In Hochsprache ist das allerdings gerade nicht übersetzbar.
Ist unsere russische Literatur dann tatsächlich so wahrhaftig, wenn wir uns im Leben all das erlauben, was wir uns auf dem Papier nicht erlauben? »Was die Feder geschrieben hat, kann die Axt nicht weghacken«?? Natürlich hat niemand den Leser mit soviel Seelenleben überschüttet wie wir. Of
fensichtlich hat das völlige Fehlen von zivilisiertem Privatleben und Privateigentum unsere totalitäre Gesellschaft zu einer nicht deklarierten Privatisierung des Privatlebens geführt, so dass es keiner Diffamierung (keinem Ausposaunen) unterliegt. Nur auf dem Papier trinken wir nicht, rauchen wir nicht, lügen wir nicht, klauen wir nicht, tun wir auch anderes nicht (genau das, woran jetzt alle gedacht haben), kriechen wir vor niemandem, betrügen wir nicht, sterben wir nicht. Und ist unser Leben frei wie der Vogel. (Darum auch, und nicht aus anderen Gründen, brauchen wir so nötig die unwandelbare Zensur, ebenjene »Axt«, damit dieses Geheimnis, dass uns nichts Menschliches fremd ist, um Gottes willen nicht ausposaunt wird.) Und da wundern wir uns noch über die argwöhnische Einstellung zu uns (mag uns die berüchtigte »Rätselhaftigkeit der russischen Seele« auch schmeicheln), und da empören wir uns noch über die »Logik der doppelten Moral«. Man kann sagen, was man will, aber Scheinheiligkeit ist nun mal das entscheidende Steuerruder der Macht.
Deshalb kann
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