Der Symmetrielehrer
sein Heimatdorf arbeitete er als Dorfbriefträger. Trat als einer der ersten der Kolchose bei. Wurde im Frühjahr 1932 vom Blitzschlag getötet. (Aus dem »Handbuch des Bergsteigers«, 1972). (Anm. d. Ü.)
[ 32 ] Vielleicht Lobatschewski (forehead = lob = Stirn)? In der Britannica wird ihm eine Viertelspalte zugestanden, dafür wird er als einziger von den Russen »erster« genannt. Hätte nie gedacht, dass er so früh zur Welt kam – 1792! Stephensons Lok fuhr noch nicht, da schnitten sich bei Lobatschewski bereits die Gleise im Unendlichen! (Unüberprüfte Replik des Übersetzers. A. B.)
[ 33 ] Die »Suppe aus einer Axt« ist auch ein Lieblingsmärchen des Autors und Übersetzers Andrej Bitow (vgl. »Das Puschkinhaus«, S. 559). (Anm. d. ÜÜ .)
II.
Das vergessliche Wort
(A Couple of Coffins from a Cup of Coffee)
Für Signora Simona N.
Die Verse wollten nicht. Auf einmal flutscht es.
Um welchen Preis jedoch! um welchen Preis …
G. G.
J a, genau hier bricht die Übersetzung ab und beginnt die Erinnerung an den vergessenen Text.
Ernsthafte Prosa war das auch im Original nicht, ich fürchte, dass auch ich sie nicht besser nacherzählen kann. Offensichtlich hatte Tired-Boffin sein heute allseits vergessenes Buch »vergesslich« geschrieben , mit großen Pausen dazwischen (wie ich jetzt übersetze, und das rechtfertigt mich). Zu unterschiedlich ist die Plot-Dichte [ 34 ] zwischen »Ansicht des Himmels über Troja« und »Das vergessliche Wort«. (»Vergesslich« – eine weitere Rechtfertigung für die Umbenennung des Kapitels, zusätzlich zur Unübersetzbarkeit des zweifelhaften englischen Kalauers.) In diesem Kapitel scheint Mister (oder Mistress?) Tired-Boffin sich für Dikas Tod an allen Frauen rächen zu wollen, nicht nur an seiner Hauptfigur. Und obwohl auch ich mich heute nur schwer mit ihrem Tod abfinden kann, befällt mich gerade in diesem Teil des so kapriziös angelegten Buches besonderer Unmut über die Professionalität der Leute »drüben«, über dieses Sujethafte, dieses Belletristi
sche, das den Traditionen der besten russischen Prosa so fremd ist. Ein trauriger Seufzer des Übersetzers wird laut …
Erstens veranlasst die sogenannte russische Sujetlosigkeit zum Nachdenken. Ich will mich hier nicht über die Belletristik von »drüben« auslassen, über diese endlosen Dialoge mit Anspielungen auf einen Subtext (was für einen Subtext kann es geben unter einem nicht vorhandenem Text?), dieses Schielen auf eine eventuelle künftige Verfilmung, auf die Leichtigkeit von Lektüre und Übersetzung – all das ist der Markt (Bezahlung pro Wort oder pro Seite?), all das rückt erfolgreiche Belletristik [ 35 ] unendlich weit von ihrer französischen Wurzel weg.
Allerdings ist Erzählen ohne ein Minimum an Sujetaufbau nicht möglich, andernfalls erlangt der Text weder Ende noch Anfang. Russische Sujets sind Sujets des Gefühls (Tschechow), der Phantasie (Gogol), noch seltener des Gedankens (Puschkin), und ebendeshalb ist das alles so flirrend geheimnisvoll, wenn man sich einzulesen versteht, und so unübersetzbar in westliche Sprachen (mit Ausnahme von Tschechow, seltsamerweise). Höchstens Dostojewski, dieser weltweit russische »brand« (wie Wodka und Bär), er hat es beim Sujet wie in der Belletristik, bei der Lesbarkeit wie in der Übersetzbarkeit zu etwas gebracht. Ist ja auch der einzige, der in diesem Sinn beim Westen in die Lehre gegangen ist, bei Dumas wie bei George Sand und sogar bei Eugène Sue. Obgleich er Französisch gar nicht besonders konnte und Russisch soso lala schrieb, das heißt, wie Gott ihm den Schnabel hatte wachsen lassen (was nicht nur die Übersetzungsmöglichkeiten erleichtert, sondern heute auch den besonderen Charme seines Stils ausmacht, auch für Russen, trotz Turgenjews Eifersucht und Nabokovs Neid).
Nun bin allerdings auch ich bei Dostojewski abgeglitten … Also, Sujets [ 36 ] gibt es bei uns nicht in unserer großen russischen Literatur, zumindest nicht in dem Sinn wie in der englischen. Jene berüchtigten dreihundert Jahre des tatarisch-mongolischen Jochs lassen sich einfach nicht damit verrechnen, dass unser Puschkin zweihundert Jahre nach Shakespeares Tod zur Reife kam. Obwohl gerade Puschkin unseren Abstand zu Europa gewiss auf hundert Jahre verringert hat. Obwohl gerade er versuchte, das europäische Sujet auf russischen Fluren zu kultivieren, so man das Sujet als eine Art Endprodukt der Erfahrung versteht, der Einsicht in die
Weitere Kostenlose Bücher