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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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!« rief Lili triumphierend.
    »Die Erde!« Urbino brach in Gelächter aus. »Dabei haben wir das Wort so oft im Gespräch gebraucht! Ne-Wera, na bitte! Er ist einfach ein König, dein Kreuzworträtselverfasser! Schaltet und waltet nach Lust und Laune! Vielleicht fiel es uns deshalb nicht gleich ein, weil wir hier im Meer sind, nicht auf Erde, hast du doch selbst gesagt. Dafür haben wir nun noch den Buchstaben E.«
    »Und was kommt raus?«
    »Wobei?«
    »Bei Presse, die die Zeit vorantreibt  … Jetzt haben wir doch mehr Buchstaben.«
    » G und H und zweimal N, noch ein E  … Kommt aber trotzdem nichts raus.«
    »Streng dich an, denk nach!«
    »Bin viel zu satt zum Denken. Gut, plag mich nicht. Bitte einen Kaffee.«
    Urbino schluckte den Kaffee und schaute in die Tasse.
    »Nun?«
    »Was – nun?«
    »Das Wort!«
    » VERGANGENHEIT ! Die Presse, die die Zeit vorantreibt ist die Vergangenheit . Weißt du, dein Erfinder ist ein Genie!«
    Und Urbino versank in Nachdenken.
    »Mach dir nichts draus. Nicht du allein bist ein Genie …«
    »Genie hin oder her … Aber ›Vergangenheit und Erde über Kreuz …‹ ist doch eine Gedichtzeile, oder?«
    »Dann schreib!«
    »Hab ich schon.«
    »Dann lies vor.«
    »Später.«
     
    Lili girrte über der abendlichen Kaffeetasse: »Ich sehe hier eine Gewitterwolke … und einen Blitz … das deutet auf einen Wetterumschlag hin …«
    »Und ich habe schon angefangen, die gestrige ›Tasse‹ zu bedichten.«
    »Trag vor.«
    »Es ist – nur so. Eine erste Skizze.«
    »Trotzdem, trag vor.«
    »Es heißt ›Der Tod der Braut‹ …«
    »Der Braut? Dann los!«
    1. Rohfassung
    Der Tod als Tod ist leicht,
Dem Leben nimmt er Lasten.
Sein Reich die Hand mir reicht.
Ein Flügel ohne Tasten.
(Sehr zweifelhaft, das »Reich« …)
Die Hand muss nicht mehr hasten,
Ist selber sterbensbleich.
Quecksilber aber lebt,
Der Tod, so quick, ihm gleich.
Am Flügel keine Tasten.
Das Leben, es entweicht,
Dein Boot zum Ufer strebt.
Kaputt das Thermometer,
Den Spiegel noch beschlägt,
Der Atem, schwindet später …
Das Quecksilber noch bebt
Wie Licht, das flirrt im Äther.
Der Flügel unbelebt.
Und Quecksilber entweicht,
Entfleucht den Amalgamen.
Die Zeile dich erreicht
Aus ungeklärten Dramen:
»Der Tod als Tod ist leicht« –
Und licht. Und rund. Und – Amen.
    2. Interlinearversion
     So ist er – TOT ?
    (Denken kann das niemand, aber gedacht haben es alle.)
    Das schlichte töchterliche Spiegelchen –
    sie hält es ihm an die Lippen,
    damit niemand sonst ihr zuvorkommt.
    Das Mädchen wirft einen Blick hinein
    und
in dem sich verflüchtigenden Wölkchen
spiegelt
sie sich
und erblickt
sich selbst –
nur sich selbst
und erkennt sich nicht.
    Nein, nicht der Spiegel wird ihm an die Lippen gehalten …
    Sein Leben nähert sich für einen Augenblick dem Spiegel
    und spiegelt sich darin so leicht
    wie ein junges Mädchen,
    überzeugt davon, dass niemand und nichts je vorbeigeht
    und jünger und hübscher zu sein
    unmöglich ist,
    ja, so …
    einen Blick nur, fast widerwillig,
dass alles tatsächlich so ist
  (und gar nicht anders sein kann).
So auch huscht ihre Schulter hindurch
wie ein Lichtstrahl
  (oder ein zufälliger Schmetterlingsflug)
und fliegt vorbei,
berührt kaum das eigene Spiegelbild,
hinterlässt den Schatten einer durchsichtigen Bewegung
in der Luft
wie einen fallenden Brautschleier
gewebt aus jedem Augenblick

(jeder ein Brautkranz,
zusammen ein Leichengewand) …
    Sogar jetzt,
    da niemand mehr im Zimmer ist
    an niemandem mehr sich spiegeln lässt
    sogar für sich selbst nicht,
    denn sie ist nicht mehr da –
nur wölkchenhaft, weil gerade noch dagewesen,
gerade rausgegangen
weil jetzt im Garten zu finden
(wovon im Zimmer eine Notiz zurückgeblieben
im Wehen des Vorhangs
im ungelesenen Buch
im angebissenen Apfel) –
weil sie bereits dort
unter den Bäumen, unter den Sternen –
Keilschriftzeichen
auf Birkenrinde –
    so
spiegelt sie sich nicht
sondern hat
den Spiegel
  verlassen …
    Nein, nicht den Spiegel berührt hatte sein Atemhauch
    (oder der Wind jener anderen Bewegung) –
    Der Spiegel, der wurde
ihm an die Lippen gehalten
Sein Leben, das hat sich
  für einen Augenblick
im Spiegel gespiegelt
und sich erkennend,
erkennend,
dass es es war,
verließ es ihn
mit der gleichen Leichtigkeit
wie der Atemhauch den Spiegel.
    Mein Gott,
    wie rasch!
     
    Diesmal erwies sich Lilis Vorhersage als präzise und traf sogleich ein. Erst wurde sie finster wie

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