Der Täter / Psychothriller
sich auf Rollschuhen im Slalom durch die Menge auf dem Ocean Drive manövrierten. Die Bürgersteige wimmelten von neugierigen und schick gekleideten Menschen, die zwischen Restaurants und Straßen-Cafés flanierten und das Art-déco-Viertel von South Beach beherrschten. Es ist ein Ort der schnellen Autos und Neonreklamen, der lauten Musik, des Salsa mit schweren Bässen oder der kreischenden Elektrogitarren, die darauf bestanden, das gelegentliche Quietschen von Autoreifen oder ein Hupkonzert zu übertönen. Niemand redet, jeder schreit. Miami, inklusive Miami Beach, lebt für das Hier und Jetzt, dachte Simon Winter. Solange etwas nur neu, schrill und bunt ist, wird es augenblicklich als ein Teil des Images akzeptiert, das die Metropole pflegt.
Die Frauen auf den Rollschuhen trugen dieselben eng anliegenden, schwarzen Lycra-Shorts und dazu fluoreszierende pinkfarbene Neckholder-Tops. Die eine war dunkelhaarig, die andere blond. Sie bewegten sich mit geschmeidiger Grazie; mal stießen sie mit den Beinen kräftig ab, um an Tempo zu gewinnen, mal entspannten sie sich und glitten mühelos dahin.
Der Fußgängerstrom teilte sich, um sie durchzulassen, und schloss dann wie eine gut ausgebildete, wenn auch etwas chaotische Armee wieder die Reihen.
Er saß auf einer Bank mit dem Rücken zum blassblauen Wasser, das sich am endlos langen Sandstrand kräuselte. Ihm wurde bewusst, dass der Straßenlärm, der in der Luft lag, die rhythmische Melodie der Wellen übertönte. Er hatte einen Duft aus Salzluft und einem Dutzend verschiedener Gerichte in der Nase, die in ebenso vielen Küchen zubereitet wurden. Einen Augenblick lang fragte er sich, wie irgendjemand glauben konnte, dass die Gerüche und Geräusche des Menschen denen der Natur vorzuziehen seien.
Er drehte sich halb um und blickte über den Strand.
Wie finde ich ihn?, fragte er sich beharrlich.
Von seiner Warte aus konnte er den kleinen Musikpavillon im Lummus Park sehen, und während er dort saß und die Leute beobachtete, bemerkte er ein halbes Dutzend älterer Männer und Frauen, die zügig vom Strand zur Promenade strebten; der allabendliche Rückzug.
Sie waren mit Gartenstühlen aus Aluminium und gefalteten Sonnenschirmen bepackt. Der Musikpavillon ist beliebt, oft überfüllt, auch wenn die Menschentrauben, die sich dort zusammenscharen, mit jedem Monat weniger zu werden scheinen.
Es ist ein seltsamer Ort, eine Zementplatte, die die sengende Sommerhitze abstrahlt, daneben ein alter, flacher und verwitterter, amtsgrün gestrichener Lagerschuppen. Ein Mikrofon sowie ein kleiner Verstärker werden jeden Tag von Angestellten der Stadt aufgestellt und wieder abgebaut. Dann treten die alten Rentner, die immer noch in Miami Beach leben, einer nach dem anderen vor und unterhalten einander mit ihren Liedern. Ein Schild an der Wand begrenzt die Zahl der Versuche für jeden auf drei. Die Songs ertönen ohne Unterbrechung durch die flirrend heiße Luft: eine Reihe osteuropäischer Sprachen wechselt sich mit einem gelegentlichen Evergreen auf Englisch und einer großen Zahl jiddischer Lieder ab. Es hat einen absurden Zug: Oft wirken die alten Menschen ein wenig lächerlich, schmachten drauflos, bringen Verse durcheinander, lassen Zeilen aus und summen die Teile, an deren Text sie sich nicht mehr erinnern. Die Sänger gestikulieren und werfen sich mit ausgebreiteten Armen in Pose, als würden sie in einer Bar auftreten. Nur selten passt der Gesang zur Musik, sind die Melodien auf die Worte abgestimmt. Die alten Stimmen sind so zittrig und heiser, dass sie die Lieder ausdünnen und zerfransen. Einige psalmodieren, andere stimmen Klagegesänge an, wieder andere triefen vor Melancholie. Doch ihren Fistelstimmen zum Trotz machen die Sänger weiter, weil sie Erinnerungen heraufbeschwören. Oft geht ihre Vorführung im Lärm der aufgedrehten Jukeboxen oder den Stereoverstärkern unter, die über den Ocean Drive plärren. Doch die alten Leute lassen sich von der Konkurrenz nicht entmutigen und singen weiter. Egal, ob auch nur ein einziges Wort ihrer Darbietung zu hören war, ernten sie dafür den großzügigen Applaus ihrer Mitstreiter.
Simon Winter schüttelte den Kopf und stand auf. Er lief langsam die Straße entlang, an den älteren Menschen, die ihm mit ihren Liegestühlen entgegenkamen, vorbei, während er den beiden jungen Frauen auf Rollschuhen folgte, die einen Moment zwischen zwei glänzenden roten Sportwagen aufblitzten und dann vor ihm im Dämmerlicht des frühen
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