Der Täter / Psychothriller
nicht. Stattdessen nahm er ihr Gesicht in die Hände und küsste sie lange. Dann zog er sie behutsam hoch, hob sie auf die Arme.
»Ins Schlafzimmer«, erklärte er.
»Romantisch«, erwiderte sie und lachte immer noch. »Lass nur nicht meinen Kopf anstoßen.«
Beim zweiten Mal hatten sie keine Eile, sondern erkundeten einander mit Lippen und Fingern. »Wir haben Zeit«, stellte Walter Robinson fest. »Wir haben alle Zeit der Welt.«
Danach schlief er ein. Doch Espy Martinez fühlte sich seltsam rastlos. Sie war erschöpft und ausgelaugt, doch ebenso erfüllt und bezaubert. Einen Moment lang betrachtete sie den Detective im Schlaf, vertiefte sich in seine entspannten Züge, auf die durchs Fenster ein Mondstrahl fiel. Sie hielt die Hand neben seine Wange, um zu sehen, wie das blasse Licht ihre helle neben seiner dunklen, glitzernden Haut aufschimmern ließ. Ihr kam der Gedanke, dass sie eine Linie überschritten hatte, doch im nächsten Moment mahnte sie sich, nicht in die alten Denkmuster, die Vorurteile aufgrund der Hautfarbe zu verfallen, denn wenn sie hoffte, auch nur eine einzige weitere Nacht mit Walter Robinson zu verbringen, sollte sie jeden Gedanken in diese Richtung so schnell ablegen wie vorhin ihre Kleider.
Sie glitt vom Bett und schlich sich leise ins Wohnzimmer. Das Apartment war klein und lag in einem unscheinbaren Gebäude. Es bot eine schöne Aussicht auf die Bucht und die Stadt. In einer Ecke fand sie Walters Schreibtisch, den er so aufgestellt hatte, dass er durchs Fenster auf Miami blicken konnte. Auf einer Seite stand das gerahmte Bild einer älteren schwarzen Frau. An der Wand hingen Diplome der Polizeiakademie und der Florida International University. Es gab noch ein Foto von einem deutlich jüngeren Walter Robinson, der, verdreckt und auf einer Wange blutverschmiert, ein Footballtrikot trug und einen Ball in die Höhe reckte. Sie erkannte die Farben der Miami Highschool wieder. Sie ließ den Blick zu dem bunten Haufen von Gesetzestexten, Büchern und Polizeiberichten schweifen. Sie entdeckte seine Notizen zum Mordfall Sophie Millstein.
Nackt und auf Zehenspitzen lief sie weiter durchs Mondlicht.
Wieder flüsterte sie: »Wer bist du, Walter Robinson?« Als könnte sie ein Papier, ein Dokument entdecken, das ihn ihr erklärte. Sie ging in die Küche und grinste angesichts der typischen Junggesellenvorräte an kaltem Bier und Bratenaufschnitt im Kühlschrank. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und entdeckte ein Aquarell an einer Wand. Als sie näher herantrat, sah sie, dass der Künstler einen endlosen Ozean gemalt hatte, der im Vordergrund in der Sonne glitzerte, während sich in der Ferne dunkle Gewitterwolken zusammenballten, die dem gesamten Gemälde eine bedrohliche Note verliehen. Im Halbdunkel war es schwierig, die Signatur des Künstlers auszumachen, und so beugte sie sich vor und schaute genauer hin, bis sie zwei Initialen entdeckte: W. R. Sie befanden sich in einer Ecke genau am Übergang von Licht zu Dunkel.
Sie lächelte und fragte sich, wo er seine Staffelei und Farben aufbewahrte.
Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und schlüpfte neben ihm unter das Laken. Sie genoss all die Gerüche von ihrer Vereinigung. Während sie die Augen schloss, hoffte sie – auch wenn sie nicht wirklich daran glauben konnte –, dass es noch andere Nächte wie diese geben würde, die eben in den Morgen überging.
Er zögerte, bevor er sie berührte, dann strich er ihr mit dem Finger eine Strähne aus der Stirn. Behutsam berührte er ihre Schulter und sagte: »Espy, wir sind spät dran. Es ist schon Morgen.«
Sie reagierte, ohne die Augen zu öffnen: »Wie spät?«
»Schon halb neun. Spät.«
Sie ließ immer noch die Augen geschlossen. »Hast du es eilig, Walter?«
»Nein«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Es gibt Tage, da muss man die Dinge einfach langsam angehen lassen.«
Wie eine schlechte Schauspielerin, die eine Blinde mimt, streckte sie beide Arme aus und tastete durch die Luft, bis sie seine Arme und Schultern fand und ihn zu sich herunterzog.
»Haben wir noch Zeit?«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete er und schlug das Laken von ihr zurück, während er sich auf sie legte.
Danach duschten sie und zogen sich eilig an. Er machte Kaffee und reichte ihr eine Tasse. Sie nahm einen einzigen Schluck und verzog das Gesicht.
»Du lieber Himmel, Walter. Der schmeckt grässlich. Ist das Instant?«
»Ähm, ja, ich bin kein großer Koch.«
»Also, dann müssen wir wohl auf
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