Der Täter / Psychothriller
Robinson sah dem Trio nach, bis es verschwand, und dachte:
Das hier begreife ich.
Ein alleingelassenes Baby, das von der Fensterbank fällt, ein Teenager, der jemanden zu erschießen versucht und damit rechnet, billig davonzukommen – das waren Alltagsbegebenheiten. An diesen Verbrechen oder tragischen Ereignissen war nichts Schockierendes, Einmaliges oder auch nur ansatzweise Außergewöhnliches. So was passiert eben. Morgen würden erneut ganz ähnliche Dinge passieren. Der Detective starrte auf die Tür zu dem Verhörzimmer, in dem die beiden alten Überlebenden und ein betagter Polizist auf seine Rückkehr mit Erfrischungsgetränken und Kaffee warteten, damit sie ihm weiter eine Geschichte erzählen konnten, die von so viel Hass und abgründig Bösem zeugte, dass es seine Vorstellungskraft überstieg. Ihm war bewusst, dass ihm sein eigener Erfahrungshorizont kein bisschen dabei helfen konnte, auch nur ein einziges Wort davon zu ermessen. Er wusste nur, dass er in ein mörderisches System gestürzt worden war, das selbst ihn tief verunsicherte, und einen Moment lang fragte er sich, ob vielleicht irgendwo am Rande jeder Lebensgeschichte ein Schattenmann lauerte.
Er stellte sich die schonungslose Frage: Wie findet man einen Kriminellen, der kein Krimineller im üblichen Sinne ist?
Gute Frage, dachte er, ohne zu wissen, dass sie sich auch Simon Winter wenige Tage davor gestellt hatte.
Wie findest du diesen Mann?
Stelle fest, wo er einen Fehler begangen hat. Irgendwo muss er einen gemacht haben.
Wie stößt man auf diesen Fehler?
Versetze dich in diesen Mann, versuche, den Schattenmann zu begreifen, und du bekommst heraus, wo ihm ein Irrtum unterlaufen ist.
Hineinversetzen? Was ist das für ein Mensch, der auf diese Weise hasst?
Bei dieser Frage stieß Walter Robinson mit einem leisen Pfeifen die Luft aus. Er hatte keine Ahnung, hoffte allerdings, dass die alten Menschen, die im Verhörzimmer auf ihn warteten, ihm dabei helfen würden.
Er schüttelte den Kopf. Du denkst zu viel, sagte er sich. Er versuchte, alles abzuschütteln, und eilte zu seinem Schreibtisch.
Er wusste nur, dass er unbedingt einen bestimmten Anruf machen wollte.
Espy Martinez griff nach dem Hörer, bevor das erste Klingelzeichen verklungen war. »Ja?«
»Espy …«
»Walter, mein Gott, ich hab die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen …«
»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich war an einem Tatort, und jetzt habe ich diese Leute in einem Verhörzimmer sitzen.«
Er verstummte, und beide schwiegen eine Weile.
»Ich wollte mit dir reden«, gestand er ein. »Einfach nur reden.«
Sie lachte, und es schwang Erleichterung mit. »Das wäre schön. Einfach nur über dich und mich zu reden. Über uns. Oder auch das Wetter …«
»Es ist verdammt heiß …«
»Oder was hältst du von Sport? Geht der Wimpel diese Saison an die Dolphins?«
Er grinste. »Gute Idee, aber die falsche Sportart.«
»Na schön, wie wär’s mit der Zukunft?«
»Unsere Zukunft? Oder Leroy Jeffersons?«
»Gute Frage. Leroy Fucking Jefferson.«
Walter Robinson schmunzelte. »Du klingst ja schon wie ein Cop. Vielleicht sollten wir ihn Leroy F. Jefferson nennen. Oder auch F. Leroy Jefferson, hat mehr Klasse.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist wohl unvermeidlich. Erst die Arbeit … Ich habe mich mit Alter und seinem entzückenden Klienten getroffen. Was für ein reizender Kerl, dieser Mr. Jefferson. Kontaktfreudig, angenehme Umgangsformen. Da bekommt man so richtig Zutrauen in die Welt, in der wir leben.«
»So schlimm?«
»Tja, weißt du was? Weißt du, was er ist? Leroy F. Jefferson, der
Augenzeuge
.«
»Er hat den Mord gesehen? Er war da?«
»Ja. Und als der brave Bürger, der er gerne sein will, hat er anschließend ganz schnell die arme Sophie Millstein beraubt. Bevor die Leiche kalt war.«
»Du lieber Himmel, was für …«
»Im Ernst. Problem ist nur, der Mörder war …«
»Ein alter weißer Mann«, platzte Robinson heraus.
»Woher weißt du …«
»Ich glaube«, meinte Robinson gedehnt, »du kommst besser rüber und hörst dir an, was die Leute zu sagen haben, die bei mir im Verhörzimmer sitzen.«
»Woher – ich glaube, ich komme nicht ganz mit. Aber ich bin gleich da.«
»Am Tatort habe ich in der Mordnacht einen älteren Mann getroffen. Einen Nachbarn. Er hat mir erzählt, sie hätte Angst gehabt. Vor jemandem, den sie vor fünfzig Jahren gekannt hatte – ein halbes Jahrhundert her und in einer anderen Welt. Ich hab ihn
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