Der Täter / Psychothriller
der Hand: Das tut er nicht.«
Winter sah in die Runde, bis sein Blick auf den beiden alten Menschen ruhte. »Was meinen Sie? Könnte es sein, dass Sie zwei die letzten Berliner sind, die vom Schattenmann wissen? Oder könnte es noch andere geben, die Sie nicht kennen? Halten Sie es für möglich, dass es mal zwanzig gab? Oder auch hundertzwanzig? Eintausendzwanzig? Wie viele haben den Keller überlebt? Den Transport in den Viehwaggons? Das KZ ? Um es auf verschlungenen Wegen bis hierher zu schaffen? Wie viele Menschen könnten ihn irgendwo in einer schmalen Gasse, im Gestapo-Hauptquartier, in einer Straßenbahn oder bei einem Bombenangriff im Bunker wenn auch noch so kurz gesehen haben? Meinen Sie nicht, dass er seit dem letzten Schuss, der im Krieg gefallen ist, an all die Gesichter gedacht und Angst bekommen hat, dass dieser oder jener Überlebende ihn enttarnen könnte? Und wozu würde ihn das bringen?«
Die anderen verspürten keine Neigung, die Antwort in Worte zu kleiden, und so blieb die Runde stumm.
Simon Winter wandte sich an Walter Robinson. »Fasst das mehr oder weniger Ihre Überlegungen zusammen?«
Er nickte. »Ziemlich genau. Nur dass es noch schlimmer sein könnte.«
»Noch schlimmer?«, fragte Espy Martinez. »Inwiefern?«
»Nehmen wir mal an, dass dieser Schattenmann existiert und dass er, sagen wir, dreimal seine Mordpläne in die Tat umgesetzt hat. Aber war’s das? Wie viele noch? Über wie viele Jahre? An wie vielen Orten? Hat er sich letztes Jahr nach Miami Beach zurückgezogen oder vor fünfundzwanzig Jahren? Wo hat er sich aufgehalten und wie viele Menschen haben ihr Leben gelassen? Wir wissen nichts, abgesehen von dem, was er vor fünfzig Jahren war – in Berlin, mitten im Krieg –, und selbst für jenen Zeitpunkt haben wir keinen Namen, keine sonstige Identifizierung, keine Fingerabdrücke oder besonderen Merkmale. Wir haben nur die Erinnerungen dieser Menschen. Erinnerungen von Kindern oder Jugendlichen an Momente der Angst und des Schreckens, in denen sie für Sekunden jemanden gesehen haben. Wie können wir die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammenbringen?«
Espy Martinez holte tief Luft. »Ich weiß, wie«, sagte sie leise.
Alle anderen fuhren zu ihr herum.
»Mr.Leroy Fucking Jefferson«, erklärte sie.
Frieda Kroner brauchte eine Weile, bis sie sich gefasst hatte. »Das ist aber ein ungewöhnlicher Name …«
Erst jetzt merkte Espy Martinez, dass sie die Obszönität in den Namen eingefügt hatte, ohne an die empfindlicheren Ohren älterer Menschen zu denken, die anders als praktisch jedes Mitglied des Strafrechtssystems nicht so selbstverständlich mit Kraftausdrücken um sich warfen. Sie entschuldigte sich augenblicklich.
»Tut mir leid, Mrs.Kroner. Bei Leroy Jefferson handelt es sich um den Mann, den Detective Robinson ursprünglich des Mordes an Sophie Millstein verdächtigt hat. Offenbar war er in ihrer Wohnung – oder in deren unmittelbarer Nähe – und hat beobachtet, wie dieser Schattenmann hineingegangen ist und das Verbrechen begangen hat.«
»Demnach«, erwiderte der Rabbi bedächtig, »kann uns dieser Jefferson sagen, wie der Schattenmann heute aussieht. Er kann ihn beschreiben?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Phantombild«, schlug Winter vor. »Ein Phantombildzeichner könnte mit ihm arbeiten und uns ein aktuelles Bild liefern. Das wäre ein Anfang. Hat er noch mehr Informationen zu bieten? Ein besonderes Merkmal vielleicht?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Martinez. »Noch nicht. Der Preis für Mr.Jeffersons Kooperation ist hoch.«
»Wie hoch?«, unterbrach Robinson sie.
»Kein Stuhl, kein Bau.«
»Mist!«, murmelte der Detective.
»Verzeihung«, sagte Frieda Kroner. »Lehnt er einen Rollstuhl ab? Und Treppen?«
»Er möchte, dass sämtliche Klagen gegen ihn fallengelassen werden. Er will das Gericht als freier Mann verlassen.«
»Ach so, verstehe. Und das ist ein Problem?«
Espy Martinez nickte. »Er hat einen Polizisten angeschossen.«
»Wenn er so was tut, muss er ein schlimmer Mensch sein«, vermutete sie.
»Sie sagen es«, bestätigte Martinez.
In Simon Winters Kopf arbeitete es. »Wenn wir ein gutes Bild von ihm hätten, also, etwas, das ihm einigermaßen ähnlich sieht …«
Martinez drehte sich zu ihm um. »Ja? Was ist mit diesem Bild?«
»Nun ja, zunächst einmal würde es dem Rabbi und Mrs.Kroner helfen. Sie wären besser gewappnet. Sie würden nicht dasitzen und einfach darauf hoffen müssen, dass sie einen Mann
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