Der Täter / Psychothriller
Zufall spielte, war dort im Lauf der Zeit einer der schlimmsten Slums der Stadt entstanden, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer der wohlhabendsten Gegenden, und sorgte so dafür, dass Angst, Wut und Neid in regelmäßigen Wogen überschwappten. Robinson hatte die ganze Gefühlsskala hinter sich und verspürte wenig Lust, sich daran zu erinnern.
Außerdem fühlte er sich ungeachtet seiner acht Jahre im Dezernat Miami Beach – zuerst in Uniform und die letzten drei mit goldener Marke – auch in seiner Dienststelle nicht zu Hause. Er fand seine mangelnde Verwurzelung ungewöhnlich und ein wenig besorgniserregend, versuchte jedoch, sie im Alltag zu ignorieren.
Er bog in den Thirteenth Court ein und sah schon von weitem die Streifenwagen, die vor dem Gebäudekomplex des Sunshine Arms parkten. Mit Genugtuung stellte er fest, dass die Kollegen in Uniform den Fundort bereits weitläufig mit Absperrband gesichert hatten. Er stieg aus seinem nicht gekennzeichneten Wagen und lief zu einer Gruppe älterer Menschen, die sich in einer Ecke des Hofs zusammendrängte. Als er sich dem Wohngebäude näherte, kam ein Streifenpolizist herüber und begrüßte ihn mit Namen. Er antwortete mit einem stummen Nicken.
»Was haben wir?«
»Älteres Opfer, im Schlafzimmer. An der Gartenseite Zeichen von gewaltsamem Eindringen. Eine Terrassentür, wissen Sie, eins von diesen Schiebedingern, die mein Sechsjähriger aufbrechen könnte …«
»Ich kenne die Sorte. Abwehrspuren?«
»Kaum. Wie’s aussieht, hat sich der Täter allerdings alles gegriffen, was nicht niet- und nagelfest war, bevor die Nachbarn zur Stelle waren. Er muss weggerannt sein, als er hörte, dass sie kamen, um nachzusehen, was los war. Einer von ihnen, ein Mr. Henry Kadosh, eine Wohnung drüber, hat den Täter noch bis auf den Weg hinter dem Garten verfolgt und ihn recht gut zu sehen bekommen. Seine Frau hat den Notruf gewählt.«
»Und?«
»Schwarz, männlich, zwischen achtzehn und Mitte zwanzig. Eins fünfundsiebzig bis eins achtzig groß. Eher schmal gebaut, um achtzig Kilo. Trug hochgeschlossene Turnschuhe und ein dunkles T-Shirt.«
»Passt auf mich«, meinte Walter Robinson. »Was wetten wir: Bevor ich den Tatort verlassen habe, sagt einer von denen: ›Aber die sehen doch einer aus wie der andere‹.« Dabei ahmte er die Stimme eines älteren Menschen nach.
Der Streifenpolizist grinste. »Wenn Sie gleich da rübergehen, schreit bestimmt einer: ›Da ist er ja!‹«
Robinson lachte. »Wahrscheinlich. Wär nicht das erste Mal.«
Der Polizist fuhr fort: »Ich hab eine Fahndung rausgegeben. Vielleicht haben wir Glück.«
»Sie sind bereits der Zweite innerhalb der letzten halben Stunde, der das zu mir sagt. Dabei fühle ich mich heute Nacht nicht gerade wie ein Glückspilz.«
Der Sergeant zuckte mit den Achseln. »Die wohl auch nicht.« Er wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung der Wohnung.
»Glauben Sie, der Zeuge könnte einem Phantombildzeichner Brauchbares schildern?«
»Er behauptet, er hätte ihn deutlich zu sehen bekommen. Mag ja sein. Aber, tja, nachdem er das gesagt hatte, reichte ihm seine Frau die Brille.«
»Na toll. Sind die bei der Gruppe da drüben?«
»Gleich vorne.«
»Nun gut, ich schau mich erst mal drinnen um …«
»Ich hab schon die Spurensicherung gerufen. Und den Gerichtsmediziner. Müssten bald hier sein.«
»Gute Arbeit. Danke.«
Der Detective begab sich zur Eingangsfront. Er zögerte einen Moment, dann lief er langsam weiter und betrat Sophie Millsteins Wohnung. Mit jedem Schritt verging ihm die unbeschwerte Flachserei, und er konzentrierte sich ganz darauf, Details wahrzunehmen. Ein weiterer uniformierter Polizist stand im Wohnzimmer neben einem verhüllten Vogelkäfig und schrieb etwas in ein Notizbuch. Er nickte und deutete überflüssigerweise hinter sich Richtung Schlafzimmer, das Walter Robinson bereits ansteuerte. Er war froh, dass er vor dem Team der Spurensicherung eingetroffen war, und auch darüber erleichtert, dass nicht die ersten Polizisten am Tatort in der Nähe der Leiche herumtrampelten, wie es sooft geschah.
Er zog es grundsätzlich vor, zunächst einmal mit dem Opfer allein zu sein. Dann konnte er seine Vorstellungskraft mobilisieren und sich die letzten Sekunden des Ermordeten vor Augen führen. Hoffte er, für Sekunden die Stimme des Opfers zu hören, dann in diesem Moment. In der rauhen, nüchternen Welt des Morddezernats war dies, da machte er sich nichts vor, eine romantische Idee. Doch
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