Der Täter / Psychothriller
Morgen zum Holocaust Center zu gehen und mit den Leuten dort zu reden. Sie waren immer so nett, sogar die jungen, und sie interessierten sich brennend für alles, was sie zu erzählen hatte; sie war sicher, dass sie ihr auch diesmal zuhören würden. Sie würden wissen, was zu tun war.
Augenblicklich ging es ihr besser.
Das ist ein guter Plan, dachte sie.
Sophie Millstein nahm den Hörer vom Telefon und wählte die Nummer des Holocaust Center. Sie wartete, bis die Ansage mit den Öffnungszeiten abgespielt war, und sagte nach dem Signalton in den Hörer: »Esther? Hier spricht Sophie Millstein. Ich muss Sie sprechen, bitte. Ich komme morgen früh und erzähle Ihnen davon, wie ich verhaftet wurde. Es ist etwas passiert. Das hat Erinnerungen wachgerufen …«
Sie zögerte, weil sie nicht wusste, wie viel sie erklären sollte. Während sie noch nachdachte, war das Band zu Ende, und mit dem Piepton wurde die Aufnahme gestoppt. Sie hielt den Hörer immer noch in der Hand und überlegte, ob sie noch einmal anrufen und ihre Nachricht zu Ende sprechen sollte, ließ es dann aber bleiben.
Sie legte auf und fühlte sich besser.
Sie ging zum Fenster neben der Wohnungstür, wo sie die Gardine an der Ecke ein wenig lupfte, um noch einmal wie nach dem Abschied von Simon Winter hinauszuspähen. In seiner Wohnung brannte kein Licht. Eine Weile betrachtete sie den Hof und blinzelte in die Nacht, um auf die andere Seite der Straße zu sehen. Ein Wagen fuhr schnell vorbei. Sie erhaschte einen Blick auf ein Paar, das zügig den Bürgersteig entlanglief. Sie gab ihren Posten an der Vorderseite auf und lief zur Gartentür, die sie, ebenso wie zuvor Simon Winter, überprüfte, um sicherzugehen, dass sie abgeschlossen war. Sie ruckelte ein wenig an der Schiebetür. Sie bedauerte, wie wenig solide sie aussah, und beschloss, dass sie am Morgen auch noch Mr. Gonzales, den Eigentümer des Sunshine Arms, anrufen könnte. Ich bin alt, dachte sie. Wir sind hier alle alt, und er sollte wirklich bessere Schlösser anbringen und vielleicht auch eine von diesen raffinierten Alarmanlagen wie zum Beispiel die bei meiner Freundin Rhea drüben im Belle Vue. Sie braucht nur auf einen Knopf zu drücken, und schon wird wie von Zauberhand die Polizei gerufen. So was in der Art sollten wir hier haben, etwas Modernes.
Sie schaute noch einmal nach draußen, sah jedoch nichts als Dunkelheit.
Mr.Boots war zu ihren Füßen.
»Siehst du, Katerchen, kein Grund, dir Sorgen zu machen.«
Der Kater antwortete nicht.
Angst und Erschöpfung hielten sich die Waage. Einen Moment lang überlegte sie ernsthaft, ob das Seniorenheim, mit dem ihr Sohn ihr in den Ohren lag, am Ende gar keine so schlechte Idee wäre.
Doch wie alles andere auch, sagte sie sich schließlich, konnte es bis morgen warten. Sie beruhigte sich mit einer Liste von Erledigungen, die am kommenden Tag anstanden: Anruf bei Mr.Gonzales; Kauf eines neuen, elektrischen Dosenöffners; Anruf bei ihrem Sohn; Besuch im Holocaust Center; Gespräche mit dem Rabbi und Mr. Silver und Mrs.Kroner. Und ein Treffen mit Simon Winter, um eine Entscheidung zu fällen. Ein voller Tag, dachte sie, trat ins kleine Badezimmer und öffnete ihr Arzneischränkchen. Dort standen eine Reihe Medikamente in Reih und Glied. Etwas fürs Herz. Etwas für die Verdauung. Etwas gegen Schmerzen. In einem kleinen Döschen fast am Ende des Fachs fand sie, was sie suchte: etwas zum Schlafen. Sie schüttete sich eine einzige weiße Pille in die Hand und schluckte sie ohne Wasser hinunter.
»So«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »In vielleicht zehn Minuten geht dein Lämpchen aus.«
Sie lief schnell ins Schlafzimmer, schlüpfte aus ihren Sachen und nahm sich die Zeit, ihr Kleid sorgfältig in den Schrank zu hängen sowie die Wäsche in den weißen Korb zu werfen. Sie zog sich das Nachthemd aus Rayon an und legte sich die Rüschen um den Hals zurecht. Sie erinnerte sich, dass es zu Leos Lieblingsnachthemden gehört hatte und dass er sie damit aufgezogen und behauptet hatte, sie sähe darin sexy aus. Sie vermisste die Neckereien. Sie hatte sich nie für sexy gehalten, doch sie mochte seine Späße, weil sie ihr das Gefühl gaben, begehrenswert zu sein, was sie genoss. Sie warf einen letzten Blick auf das Foto ihres Mannes und schlüpfte unter die dünnen Laken. Als die Wirkung der Schlaftablette einsetzte, spürte sie eine angenehme, warme, ein wenig schwindelerregende Woge.
Der Kater sprang neben ihr aufs Bett.
Sie streckte die Hand
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