Der Täter / Psychothriller
sie erwies sich immer wieder als Verständnishilfe, und er hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass alles, was den allmählichen Erkenntnisprozess beflügelte, von Nutzen war.
Während er sich wie ein Vater, der ein schlafendes Kind nicht wecken will, ins Schlafzimmer schlich, dachte er wie sooft, dass er den Beruf des Ermittlers im Morddezernat von Herzen hasste, der unzählige schwüle Nächte, Leichen und Papierkram mit sich brachte – Hitze, Gestank und Plackerei. Obwohl er noch jung war, hatte er sich schon lange von der phantastischen Vorstellung verabschiedet, ihn verbände ein unsichtbares Band mit Sherlock Holmes oder Hercule Poirot. Genauso wenig empfand er sich wie einige der erfahreneren Kollegen im Präsidium als stellvertretender Rächer, dazu berufen, die scheinbar endlose Kette an Missetaten, die Menschen aneinander verüben, zu ahnden. Vielmehr sah er sich im Lauf der Zeit immer mehr als Buchhalter der Toten. Ihm fiel die Aufgabe zu, ihre letzten, schrecklichen Momente zu sichten und zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen, um dann das Ergebnis seiner Wahrheitsfindung der nächsten Behörde vorzulegen, sei es ein Ermittlungsausschuss oder das Gericht.
Die Tote lag mit ausgestreckten Armen und Beinen unnatürlich verrenkt in einem zerwühlten, zerrissenen Knäuel aus Laken auf dem Bett. Sie muss nach Leibeskräften um sich geschlagen und getreten haben, dachte er, um das tödliche Gewicht, das sie niederdrückte, abzuwehren.
Er selbst hätte seinen Arbeitsstil als routiniert und gründlich beschrieben und dabei diese Momente, in denen ihn die intuitive Erkenntnis wie ein Stromschlag traf und er dem Mörder auf die Schliche kam, heruntergespielt. Er führte diese aufregenden Geistesblitze lieber auf seine Ausdauer und Hartnäckigkeit zurück, wohingegen er in den Augen seiner Kollegen das Ermittlergespür zur Kunst verfeinert hatte. So oder so zeitigte seine Vorgehensweise Ergebnisse. Niemand im Dezernat löste mehr Fälle als er, und so genoss er die Hochachtung seines Vorgesetzten, der sich wenig darum scherte,
wie
ein Verbrechen aufgeklärt wurde, solange die Statistik stimmte. Entsprechend galt Walter Robinson als ein Mann mit denkbar guten Aufstiegschancen in der Hierarchie der Kripo Miami Beach.
Er selbst zeigte sich allerdings von Dienstgraden und Titeln wenig beeindruckt; für ihn hatte die Aussicht auf die polizeiliche Karriereleiter etwas von einer ansteckenden Krankheit, und schon deshalb arbeitete er am liebsten allein.
Robinson näherte sich behutsam dem Opfer. Er achtete darauf, wohin er seine Füße setzte, und hielt die Hände bei sich. Er registrierte die markanten roten Male an ihrer Kehle und sah, dass ihre Augen im Tod weit aufgerissen waren; einem alten Mythos zufolge blieb in den Augen eines Ermordeten in dem Moment, da ihn der Tod ereilt, ein Bild des Mörders zurück. Er hatte mehr als einen Fall gesehen, bei dem ein abergläubischer Killer dem Opfer nachträglich die Augen herausgerissen hatte. Er wünschte sich, der Mythos stimmte. Würde ihm die Arbeit entschieden erleichtern.
Wer hat dich ermordet?, hätte er am liebsten gefragt. Doch das Einzige, was er in diesen Augen lesen konnte, war blankes Entsetzen. Das verwunderte ihn nicht; die Frau war vom Druck auf die Luftröhre erwacht. Hätten sie Geräusche vom Einbruch aufgeschreckt, wäre der Mord an einer anderen Stelle geschehen. Er sah sich um und suchte nach Schlaftabletten. Schau im Badezimmer nach, nahm er sich vor und wusste schon jetzt, dass er fündig werden würde.
Robinson wandte sich von der Leiche ab und nahm – wie ein Sachverständiger vor der Auktion das Kunstwerk – den Raum in Augenschein. Schubladen waren aufgezogen, ihr Inhalt ausgekippt. Eine Nachttischlampe lag zersplittert am Boden. Zuerst dachte er an einen Kampf. Doch dann verwarf er die Idee. Nein, dachte er. Der Kampf hat auf dem Bett, inmitten der zerknüllten, zerfetzten Decken stattgefunden, und er hat nicht lang gedauert. Das hier hatte damit zu tun, dass der Mann in Eile war. Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb, und so durchwühlte er das Zimmer so schnell er konnte. Auf dem Boden entdeckte Robinson ein Kissen ohne Bezug. Eine Frau, die in frischer Bettwäsche schläft, aber ohne Kissenbezug? Nein, den hat der Täter sich geschnappt, um darin sein Diebesgut mitzunehmen. Er prägte sich das Blumenmuster der Laken ein. Bist du clever genug, den wegzuwerfen? Wage ich zu bezweifeln.
Der Detective ließ die Luft in einem
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