Der Täter / Psychothriller
anschließend wieder ruhig und sachlich bei der fassungslosen Frau in der offenen Leitung.
»Ma’am, es ist Hilfe unterwegs. Ein Polizist müsste jeden Moment eintreffen. Außerdem habe ich einen Krankenwagen bestellt.«
»Er hat ihn gesehen, mein Henry, wie er aus der Gartentür gerannt ist. Ein Schwarzer, und Henry hat ihn bis zur Gasse hinter dem Zaun verfolgt, aber dann ist er ihm entwischt, und ich habe Sie angerufen. Ach, die arme Mrs.Millstein!«
»Ma’am, ist der Tatverdächtige noch in der Nähe?«
»Was? Wer? Nein, er ist über die Gasse getürmt.«
»Ma’am, legen Sie nicht auf. Ich brauche noch Ihren Namen und Ihre Anschrift …«
Wieder ließ sie die Anruferin in der Leitung warten, während sie eine weitere Nummer wählte.
»Morddezernat Beach. Detective Robinson am Apparat.«
»Detective? Hier spricht Nummer drei von der Notrufzentrale. Ich glaube, es kommt ein bisschen Schwung in Ihre gemächliche Dienstnacht. Wir haben gerade einen Anruf reinbekommen, möglicherweise ein Tötungsdelikt in einer Wohnanlage namens Sunshine Arms in South Beach. Die Streife ist schon auf dem Weg, aber vielleicht wollen Sie ja jemanden hinschicken, bevor die alle Spuren zertrampeln …«
Walter Robinson erkannte die Stimme. »Lucy«, seufzte er, »was wäre eine Nacht ohne einen Anruf von Ihnen.«
Nummer drei grinste, wünschte sich einen Augenblick lang, sie wäre jünger und sexier und zu Hause läge nicht schnarchend ihr Mann in ihrem breiten Doppelbett. »Also, Detective«, sagte sie, »wir haben alles beisammen, samt hysterischer alter Frau in der Leitung, die behauptet, der Täter sei gerade vom Tatort geflohen. Wenn Sie sich beeilen, haben Sie vielleicht Glück.«
»Glück«, erwiderte Robinson, »ist auf dieser Welt Mangelware.«
Nummer drei nickte. Sie blickte auf und sah, wie Nummer siebzehn mit einem verlegenen, schuldbewussten Gesichtsausdruck die Zentrale betrat.
»Na ja, Detective, wenn Sie kein Glück brauchen …«
»Das hab ich nicht behauptet, Lucy. Ich hab nur gesagt, dass es rar gesät ist. Besonders spätnachts in der Großstadt.«
»Können Sie laut sagen«, pflichtete Nummer drei bei, während sie die Verbindung mit dem Detective trennte und über die offene Leitung im Hintergrund eine Sirene hörte, die das Schluchzen der alten Dame zunehmend übertönte.
Walter Robinson beendete das Telefonat und schrieb sich die Adresse auf ein Stück Schmierpapier. Er machte sich auf die Hitze gefasst, die draußen auf ihn wartete, wenn er die frische Kühle seines Büros im Morddezernat verließ: eine widerwärtige, zähflüssige, klebrige Schwüle, die einem die Luft zum Atmen nahm. Die gestaute Feuchtigkeit würde ihm wie eine Zwangsjacke die Brust einschnüren. Er atmete einmal tief ein, schob die juristischen Lehrbücher, in denen er gelesen hatte, in eine Schublade, nahm ein Funkgerät von der Ladestation auf der Ecke seines Schreibtischs und dachte: Was für eine schreckliche Nacht zum Sterben.
Robinson, dessen Alter sich weniger an Jahren als an desillusionierenden Erfahrungen auf der Straße messen ließ, war nur noch zwanzig Punkte vom Juraabschluss entfernt – seinem Freifahrtschein aus dem Polizeidienst. Er fuhr zügig durch das gelbliche Licht der Natriumdampflampen, die das nächtliche Pflaster mit diesem gespenstischen Schimmer überzogen. Auch wenn er sich in Miami nicht als Einheimischer empfand – ein Status, den er diesem etwas gröberen Schlag mit dem gedehnten Südstaatenakzent nicht neidete, so war er doch als Sohn einer Grundschullehrerin in Coconut Grove aufgewachsen.
Sein zweiter Vorname lautete Birmingham, allerdings benutzte er ihn nie. Es wäre zu kompliziert, den Weißen und Latinos, mit denen er bei der Polizei von Miami Beach vorwiegend zusammenarbeitete, zu erklären, wieso man ihn zumindest teilweise nach einer Stadt benannt hatte. Seine Mutter war mit einem der Kinder entfernt verwandt, die 1963 bei dem Attentat von Birmingham ums Leben gekommen waren, und so hatte sie bei seiner Geburt einen Teil ihres Zorns weitergegeben, indem sie ihn nach der Stadt in Alabama benannte, damit er, wie sie ihm von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis rief, nicht vergaß, wo er herkam.
Dabei fand Walter Robinson nichts Verkehrtes daran, zu vergessen, woher er kam. Er hatte seinen Namensgeber in Alabama noch nie besucht, und es zog ihn auch nicht sonderlich in den Stadtteil zurück, in dem er groß geworden war. Der Grove ist ein eigenartiger Teil von Miami. Wie der
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