Der Täter / Psychothriller
schnurstracks zum nächsten Telefon und rief in seinem Büro an, nur um zu erfahren, dass er sich seit seinem Besuch in der Wohnung des Rabbi noch nicht wieder gemeldet hatte.
Sie kämpfte mit sich, ob sie auf dem schnellsten Wege nach Hause fahren sollte – der Gedanke an eine Dusche und frische Kleider, vielleicht sogar ein Nickerchen war zu verführerisch. Andererseits hatte sie das unerklärliche Gefühl, dass die Dinge in Gang kamen und jede Minute zählte; auf einem Blatt Papier in ihrer Aktentasche hatte sie einen Namen und eine Nummer und damit möglicherweise alles, was sie brauchten, um den Mann, hinter dem sie her waren, endlich zu finden.
Sie warf einen letzten prüfenden Blick durch die Ankunftshalle, doch von Walter Robinson keine Spur. Sie sagte sich, das sei kein Grund, enttäuscht zu sein, schließlich gebe es derzeit andere Prioritäten, als sie vom Flughafen abzuholen, und sie konnte nicht einmal sicher sein, ob er ihre telefonische Nachricht erhalten oder ob jemand ihre Ankunftszeit richtig wiedergegeben hatte. So fand sie allerlei triftige Erklärungen für seine Abwesenheit, vergaß für einen Moment die Erschöpfung und strebte dem Ausgang zu.
Sie stand in der üblen Mischung aus Abgasen und der zähflüssigen Abendhitze, die den überdachten Taxistand füllte, und winkte einen Wagen heran. Sie stieg hinten ein, gab dem Fahrer ihre Adresse an, lehnte sich zurück und ließ sich die tropische Luft um die Nase wehen. Doch bevor das Taxi das Flughafengelände hinter sich gelassen hatte, überlegte sie es sich anders, beugte sich zum Fahrer vor und dirigierte ihn im Schnellfeuerspanisch zur Wohnung des Rabbi in Miami Beach.
Simon Winter hatte Esther Weiss am Arm gepackt. Mit der freien Hand pochte er energisch auf das Phantombild.
»Wer?«, fragte er. »Wer ist das?«
Walter Robinson war aufgesprungen und wiederholte in angespannt hoffnungsvollem, doch kühl beherrschtem Ton – »Wo haben Sie diesen Mann gesehen?« – dieselben erregten Fragen des älteren Detective.
Esther Weiss starrte die beiden Männer mit angstverzerrtem Gesicht an. »Das ist er?«, fragte sie schrill.
»Ja«, erwiderte Robinson. »Wo haben Sie diesen Mann gesehen?«, bohrte er.
Esther Weiss öffnete ungläubig den Mund, und Simon Winter sah die Panik in ihren Augen. Er ließ ihren Arm los, und sie sank auf ihren Stuhl zurück, während sie die beiden Männer immer noch fassungslos ansah.
»Hier natürlich«, antwortete sie langsam. »Hier im Center …«
Winter wollte gerade etwas sagen, doch Robinson kam ihm zuvor. Er wählte seine Worte mit Bedacht und sprach in beherrschtem, hoffnungsvollem Ton. »Wann und wie, sagen Sie uns bitte jetzt, auf der Stelle, was Sie wissen«, forderte er die junge Frau auf. »Lassen Sie nichts aus, jede Kleinigkeit kann hilfreich sein.«
»Das ist der Schattenmann?«, erkundigte sich die Frau noch einmal.
»Ja«, bestätigte Simon Winter.
»Aber der Mann ist Historiker«, antwortete sie. »Mit untadeligem wissenschaftlichem Renommee …«
»Na, das wohl eher nicht«, meinte Winter ruhig. »Oder er ist beides. Jedenfalls ist das der Mann, nach dem wir suchen …«
»Erzählen Sie der Reihe nach«, bat Robinson. »Ein Name. Eine Anschrift. Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Er studiert die Videos«, berichtete sie. »Wir gestatten Forschern, sich die Bänder anzusehen. Historikern und Sozialwissenschaftlern …«
»Ich weiß«, sagte Simon Winter ungeduldig. »Aber dieser Mann – wer ist das?«
»Ich hab seinen Namen in den Akten.« Esther Weiss hüstelte beim Sprechen. »Ich hab’s schriftlich. Auch seine Adresse. Ich habe das alles, ich glaube, auch einen Lebenslauf. Erinnern Sie sich, Mr.Winter? Ich habe Ihnen neulich ein paar Namen gegeben …«
»Ja, ich weiß. Stand er auf der Liste?«
»Ich entsinne mich nicht«, erwiderte die junge Frau. »Die haben Sie, ich weiß es nicht mehr.«
Walter Robinson schaltete sich behutsam ein. »Aber Sie können die Kartei jetzt einsehen, richtig? Sie können die Liste der Akademiker durchsehen und diesen Mann raussuchen, ja? Haben Sie ihn in Ihrem Rolodex? In einem Adressbuch? Miss Weiss, wenn ich bitten dürfte.«
»Ich kann nicht glauben …«
»Miss Weiss, bitte!«
Sie zögerte, dann lenkte sie ein. »Ja, selbstverständlich. Sofort.«
Die Leiterin des Zentrums ging unsicher zu einem schwarzen Aktenschrank in einer Ecke ihres kleinen Büros. Sie zog die oberste Schublade auf und suchte in den darin
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