Der Täter / Psychothriller
könnte man so etwas vergessen? Ich sehe die Worte noch vor mir. Es war ein einziger Satz: ›Ich bin des Lebens müde und vermisse meine geliebte Hanna, und so mache ich mich jetzt zu ihr auf den Weg.‹ Das war alles. Er hat sich erschossen. Sagt der Detective. Nur ein Schuss, direkt in die Stirn.«
»Die Stirn?«
»Sagt der Polizist.« Der Rabbi tippte sich, während er sprach, an die Stelle über den Augenbrauen.
»Sind Sie sicher? Haben Sie die Tatortaufzeichnungen des Kriminalbeamten gelesen? Haben die Ihnen irgendwelche Fotos vom Leichenfundort gezeigt? Haben Sie den Autopsiebericht gesehen?«
Angesichts des Feuerwerks an Fragen zog der Rabbi eine Augenbraue hoch.
»Nein, er hat mir nur so viel mitgeteilt. Gezeigt hat er mir gar nichts. Einen Bericht?«
Simon Winter wollte gerade die nächste Frage hinterherschieben, hielt sich aber im Zaum.
Die Stirn,
dachte er. Nicht in die Schläfe. Nicht in den Mund, so wie ich es wollte – vor Jahren, wie ihm jetzt schien. Er versuchte sich vorzustellen, wie man eine Pistole in dieser Position hielt. Unbequem, aber immerhin möglich. Nicht einmal unwahrscheinlich. Aber unbequem. Wieso sollte sich jemand seinen Selbstmord unnötig erschweren? Die spontane Erklärung dafür, die ihm in den Sinn kam, war ein Missverständnis seitens des Detective.
Der Rabbi sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. »Sie verstehen etwas von diesen Dingen, Mr.Winter?«
»Ja. Ich habe zwanzig Jahre lang als Polizist für die Stadt Miami gearbeitet und mich vor einigen Jahren nach Miami Beach zurückgezogen. Also ja, auch wenn es lange her ist, verstehe ich immer noch etwas von solchen Dingen, Rabbi.«
»Sie waren bei der Polizei?«, ging Mr.Silver hastig dazwischen. »Und jetzt?«
»Und jetzt bin ich einer von vielen alten Menschen in Miami Beach, Mr.Silver.«
Rabbi Rubinstein schnaubte leise. »Deshalb ist Sophie zu Ihnen gekommen.«
»Ja, vermutlich. Sie hatte Angst, und sie wusste, dass ich eine Waffe besitze.« Winter holte tief Luft. »Sie dachte, ich kann ihr helfen.«
»Ich werde mir auch eine Waffe zulegen«, erklärte Mr.Silver trotzig. »Und ich glaube, das sollten wir alle tun, damit wir uns verteidigen können!«
»Ich versteh nichts von Waffen«, warf Frieda Kroner ein. »Und was weißt du schon, du alter Narr? Höchst wahrscheinlich geht das Ding irgendwie los, und du erschießt dich selbst oder deinen Nachbarn oder den jungen Kerl, der dir deine Medizin von der Apotheke bringt.«
»Ja, aber vielleicht erschieße ich zuerst
ihn
, wenn er es auf mich abgesehen hat.«
Nach dieser Bemerkung herrschte mit einem Schlag Schweigen in der Runde.
Simon Winter betrachtete die drei Gesichter ihm gegenüber. Der Rabbi schien vor Furcht und Niedergeschlagenheit ermattet; aus Mrs.Kroners Blick sprach Verzweiflung gepaart mit Trotz; Mr.Silver kaschierte seine Panik mit Wut. Der Rabbi ergriff als Erster das Wort.
»Sie müssen Nachsicht mit uns haben, Mr.Winter. Sophie war unsere Freundin, und wir sind in Trauer. Aber wir sind auch aufgebracht, und jetzt haben wir außerdem noch gehörig Angst.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Rabbi. Aber woher nehmen Sie die Überzeugung, dass sie von diesem Mann ermordet wurde? Die Polizei hat einen Zeugen, einen anderen Nachbarn, der gesehen hat, wie der Verdächtige vom Tatort floh. Ein junger Schwarzer.«
»Und Sie glauben das?«, fragte Irving Silver gereizt.
»Ein Augenzeuge«, entgegnete Winter betont. »Er ist dem Mann bis zu der Gasse hinter dem Grundstück gefolgt.«
Der Rabbi schüttelte den Kopf. »Ich bin durcheinander, Mr.Winter, und das macht mir offenbar nur noch mehr Angst. Mr.Stein meint, er sieht den Schattenmann, und wenig später ist er tot. Ein Selbstmord. Sophie meint, sie sieht den Schattenmann, und wenig später ist sie tot, von einem unbekannten Schwarzen ermordet. Das ist für mich ein Rätsel, Mr.Winter. Sie sind der Detective. Sagen Sie’s uns: Kann ein solch merkwürdiges Zusammenspiel Zufall sein?«
Simon Winter ließ sich mit der Antwort Zeit. »Rabbi, ich war viele Jahre Ermittler beim Morddezernat …«
»Ja, ja, aber beantworten Sie die Frage!«, fuhr ihm Irving Silver dazwischen. Er machte schon den Mund auf, um noch etwas zu sagen, doch Frieda Kroner stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.
»Fall dem Mann doch nicht ins Wort!«, flüsterte sie barsch.
Winter ließ erst einmal Stille einkehren, um sich seine Antwort gut zu überlegen.
»Ich will es einmal so sagen. Zufälle dieser
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