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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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fragte Cooper. »Es ist schon nach zehn.«
    Rhyme ersparte sich den für solche Situationen obligatorischen Spruch: Wenn wir nicht schlafen, brauchen die anderen das auch nicht. Sein Blick reichte völlig aus, um die Botschaft zu übermitteln.
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    . Zweiunddreißig
    Lincoln Rhyme hatte seinen toten Punkt überwunden.
    Thom hatte abermals etwas zu essen serviert, und obwohl Rhyme für gewöhnlich kein besonderes Vergnügen bei der Nahrungsaufnahme empfand, hatten die Hühnchensandwiches mit dem selbst gebackenen Brot ihm gut geschmeckt. »Die Idee stammt von James Beard«, verkündete der Betreuer, wenngleich Rhyme mit dem Verweis auf den weithin geschätzten Küchenchef und Kochbuchautor nicht das Geringste anfangen konnte. Sellitto hatte ein Sandwich heruntergeschlungen und ein zweites nach Hause mitgenommen. (»Sogar noch besser als der Thunfischsalat«, lautete sein Urteil.) Mel Cooper bat für Gretta um das Brotrezept.
    Sachs saß am Computer und verschickte einige E-Mails. Rhyme wollte sich gerade erkundigen, was sie da machte, als es an der Tür klingelte.
    Gleich darauf führte Thom den NYPD-Kriminalpsychologen Terry Dobyns, den Rhyme schon seit Jahren kannte, in das Labor. Der Behaviorist war etwas kahler und beleibter als bei ihrem ersten Treffen - als Dobyns in der schrecklichen Zeit nach Rhymes Unfall oft stundenlang an dessen Bett gesessen hatte. Aber er hatte immer noch den gleichen freundlichen und aufmerksamen Blick, an den Rhyme sich erinnerte, dazu ein beruhigendes, unvoreingenommenes Lächeln. Der Kriminalist stand psychologischen Profilen skeptisch gegenüber und bevorzugte greifbare Spuren, aber er musste zugeben, dass Dobyns bisweilen brillante und hilfreiche Einblicke in das Verhalten der Täter geliefert hatte, die Rhyme verfolgte.
    Dobyns begrüßte nun alle Anwesenden und nahm von Thom einen Kaffee entgegen, wollte aber nichts essen. Dann setzte er sich auf einen Hocker neben Rhymes Rollstuhl.
    »Das mit dem Horten war ein guter Einfall. Ich glaube, du hast Recht. Ach ja, und ich habe mit der Beratungsstelle gesprochen. Die haben für mich einen Blick auf die bekannten Hamsterer der
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    Stadt geworfen. Es gibt nicht allzu viele, und höchstwahrscheinlich zählt der Täter nicht dazu. Da er Vergewaltigungen verübt hat, habe ich die Frauen von vornherein ausgeschlossen. Die meisten der Männer sind entweder zu alt oder anderweitig beeinträchtigt. Nur zwei von ihnen würden zu dem Tatprofil passen. Sie wohnen auf Staten Island und in der Bronx, können aber für den Mord vom Sonntag ein Alibi vorweisen, im einen Fall durch einen Sozialarbeiter, im anderen durch Familienangehörige.«
    Rhyme war nicht überrascht - 522 war zu schlau, um nicht seine Spur zu verwischen.
    Aber der Kriminalist hatte wenigstens auf einen kleinen Anhaltspunkt gehofft und zog nun ein finsteres Gesicht.
    Dobyns musste unwillkürlich lächeln. Sie hatten damals ausführlich über diesen Punkt gesprochen. Wenn es um private Angelegenheiten ging, war es Rhyme stets schwergefallen, Wut und Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen. In beruflicher Hinsicht hatte er diesbezüglich jedoch noch nie Probleme gehabt.
    »Vielleicht kann ich dir mit einigen Erläuterungen weiterhelfen. Das Hamstern ist eine Form der Zwangsstörung. Sie tritt auf, wenn jemand sich Konflikten oder Spannungen ausgesetzt sieht, die er emotional nicht bewältigen kann. Sich auf ein Verhalten zu konzentrieren, ist für ihn viel einfacher, als sich dem zugrunde liegenden Problem zu stellen. Also fängt er an, sich immerzu die Hände zu waschen oder alles Mögliche zu zählen. Oder er hortet.
    Ein solcher Hamsterer ist an sich nur selten gefährlich. Es gibt gewisse Gesundheitsrisiken - Schädlingsbefall, Schimmel oder eine erhöhte Brandgefahr -, aber im Wesentlichen möchte er einfach bloß in Ruhe gelassen werden. Wenn er könnte, würde er inmitten seiner Sammlung leben und nie mehr das Haus verlassen.
    Euer Freund hingegen, tja, der ist eine merkwürdige Mischung. Eine Kombination aus einer narzisstischen, gesellschaftsfeindlichen Persönlichkeit und der besagten Zwangsstörung. Sobald er etwas will - beispielsweise seltene Münzen oder Gemälde oder sexuelle Befriedigung -, muss er es haben. Er muss, ohne Wenn und Aber. Und zu diesem Zweck oder zum Schutz seiner Sammlung wird er völlig bedenkenlos töten. Ich würde sogar so weit
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    gehen zu behaupten, dass die Morde ihn beruhigen. Andere Menschen empfindet er als Belastung. Sie könnten ihn

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