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Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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vertrocknete Fleisch, die Fingernägel und das Haar an meiner Wange zu spüren, ist ein so tröstliches Gefühl.
    Doch ich bin erschöpft. Ich setze mich vor das Harvey-Prescott-Gemälde und schaue zu ihm hinauf. Die Familie schaut zurück. Es ist wie bei manchen Porträts - ihre Blicke folgen dir überallhin.
    Beruhigend. Aber auch irgendwie unheimlich.
    Vielleicht ist einer der Gründe, aus denen ich Prescotts Arbeit so liebe, die Tatsache, dass seine Figuren ohne Vergangenheit sind. Sie werden von keinerlei Erinnerungen geplagt, die sie kribbelig machen, die ganze Nacht wach halten und hinaus auf die Straße treiben, wo sie dann Schätze und Trophäen sammeln.
    Ach, Erinnerungen:
    Juni, fünf Jahre alt. Vater setzt sich mit mir hin, steckt sich die unangezündete Zigarette hinter das Ohr und erklärt mir, dass ich nicht sein Kind bin. »Wir haben dich in die Familie aufgenommen, weil wir dich unbedingt wol ten, und wir haben dich lieb, auch wenn du nicht unser leiblicher Sohn bist, das verstehst du doch, oder?« Eigentlich nicht, nein. Ich starre ihn fragend an. Mutter knetet ein Papiertaschentuch zwischen den feuchten Fingern. Sie platzt damit heraus, dass sie mich wie ihr leibliches Kind liebt, nein, sogar noch mehr. Ich begreife nicht, wie das gehen sol . Es klingt wie eine Lüge.
    Vater geht zu seinem Zweitjob. Mutter kümmert sich um die anderen Kinder und lässt mich mit meinen Gedanken al ein. Ich komme mir vor, als habe man mir etwas weggenommen. Aber ich weiß nicht, was. Ich sehe aus dem Fenster. Es ist schön hier. Berge und viel Grün und kühle Luft. Aber ich bin am liebsten in meinem Zimmer, und dahin gehe ich jetzt auch.
    230
    August, sieben fahre alt. Vater und Mutter streiten sich schon wieder. Lydia, die älteste von uns, weint. Geh nicht, geh nicht, geh nicht. . Ich hingegen rechne mit dem Schlimmsten und decke mich mit Essen und Pennys ein - Pennys vermisst niemand. Nichts kann mich davon abhalten, sie zu sammeln, insgesamt ein-hundertvierunddreißig Dollar in Kupfermünzen, manche glänzend, andere matt. Ich verstecke sie in Schachteln in meinem Wandschrank..
    November, sieben Jahre alt. Vater kommt nach einem Monat zurück, in dem er »dem flinken Dollar hinterhergejagt« ist, wie er oft sagt. (Lydia und ich lächeln dann immer.) Erfragt, wo die anderen Kinder sind. Mutter sagt ihm, sie habe es allein nicht mehr geschafft. »Rechne es dir selbst aus«, sagt er. »Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht? Schnapp dir das Telefon, und ruf die Stadt an.«
    »Du warst nicht hier«, weint sie.
    Lydia und ich sind verwirrt, aber wir wissen, es hat nichts Gutes zu bedeuten.
    In meinem Schrank sind zweihundertzweiundfünfzig Dollar in Pennys, dreiunddreißig Dosen Tomaten, achtzehn Dosen anderes Gemüse und zwölf Dosen Spaghetti mit Soße, die ich nicht mal mag, aber ich habe sie. Das ist al es, was zählt.
    Oktober, neun Jahre alt. Mutter hat bei der Stadt angerufen. Noch mehr Notunterbringungen von Pflegekindern. Im Augenblick gibt es hier neun von uns. Lydia und ich helfen. Sie ist vierzehn und kann sich um die kleineren Kinder kümmern. Lydia bittet Vater, den Mädchen Puppen zu kaufen - denn sie selbst hatte nie eine, und es ist wichtig -, aber er sagt, wie sol ten sie vom Geld der Stadt leben, wenn sie es für solchen Mist aus dem Fensterwerfen?

    Mai, zehn Jahre alt. Ich komme aus der Schule zurück. Es hat mich große Überwindung gekostet, aber ich habe einen Teil der Pennys genommen und eine Puppe für Lydia gekauft. Ich bin so sehr auf ihre Reaktion gespannt. Aber dann sehe ich, dass ich einen Fehler begangen und die Schranktür of en gelassen habe. Vater ist drinnen und reißt die Schachteln auf. Die Pennys liegen da wie tote Soldaten auf einem Schlachtfeld. Erfüllt sich die Taschen 231
    und nimmt die Schachteln mit. »Du hast sie doch selbst geklaut, also jammere nicht.« Weinend erzähle ich ihm, ich hätte die Pennys gefunden. »Gut«, sagt Vater triumphierend. »Und jetzt habe ich sie gefunden, daher gehören sie mir... Nicht wahr, junger Mann? Da bleibt dir die Spucke weg, was? Herrje, fast fünfhundert Dollar.« Und er nimmt die Zigarette, die hinter seinem Ohr klemmt.
    Wissen Sie, wie sich das anfühlt, wenn jemand kommt und Ihnen Ihre Sachen wegnimmt, Ihre Soldaten, Ihre Puppen, Ihre Pennys? Halten Sie sich bei geschlossenem Mund die Nase zu. So fühlt sich das an, und man kann es nicht allzu lange aushalten, bis etwas Schreckliches geschieht.
    Oktober, elf Jahre alt. Lydia

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