Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Täuscher

Der Täuscher

Titel: Der Täuscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
Vom Netzwerk:
nahmen ihr Frühstück im Schlafzimmer ein. Sachs fütterte Rhyme. Genau wie unten im Wohnzimmer und im Labor war es auch hier mittlerweile wesentlich gemütlicher als bei Sachs' erstem Besuch vor vielen Jahren. Damals war alles nur kahl und zweckmäßig gewesen, und als einzigen Wandschmuck hatte es große Kunstposter gegeben, die sie bei ihrem ersten gemeinsamen Fall umgedreht an die Wand geheftet und als behelfsmäßige Tafeln genutzt hatten. Die Poster hingen wieder richtig herum, und es waren weitere hinzugekommen, von Gemälden, die Rhyme gefielen: impressionistische Landschaften und melancholische Stadtszenen von Künstlern wie George Inness und Edward Hopper.
    Nun setzte Amelia sich neben Rhymes Rollstuhl und nahm seine rechte Hand, über die er seit einiger Zeit wieder ein wenig Kontrolle besaß. Er konnte Sachs' Fingerspitzen spüren, obwohl das Gefühl merkwürdig war und ein oder zwei Stufen entfernt von dem, was er an Hals oder Gesicht empfinden würde, wo die Nerven normal funktionierten. Ihre Hand war wie Wasser, das auf seine Haut tröpfelte. Er befahl seinen Fingern, sich um ihre zu schließen. Und merkte den Druck von Amelias Erwiderung. Schweigen. Aber er entnahm ihrer Körperhaltung, dass sie über Pam sprechen wollte, und sagte nichts, damit sie den Zeitpunkt selbst wählen konnte. Er beobachtete die Wanderfalken auf dem Fenstersims, aufmerksam, hellwach, das Weibchen ein Stück größer. Die beiden waren angespannte Kraftpakete. Falken jagen bei Tag, und es galt Jungtiere zu füttern.
    »Rhyme?«
    234
    »Ja?«
    »Du hast ihn noch immer nicht angerufen, nicht wahr?« »Wen?«

    »Deinen Cousin.«
    Oh, es ging gar nicht um Pam. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen, dass Sachs über Arthur Rhyme nachdenken könnte. »Nein, hab ich nicht.«
    »Weißt du was? Ich wusste nicht mal, dass du einen Cousin hast.«
    »Hab ich ihn denn nie erwähnt?«
    »Nein. Du hast von deinem Onkel Henry und deiner Tante Paula gesprochen. Aber nicht von Arthur. Warum nicht?«
    »Wir arbeiten zu schwer. Da bleibt keine Zeit zum Plaudern.« Er lächelte. Sie nicht.
    Sollte er es ihr erzählen?, grübelte Rhyme. Nein, dachte er im ersten Moment. Weil die Erklärung nach Selbstmitleid stank. Und Lincoln Rhyme hasste Selbstmitleid.
    Dennoch, sie verdiente es, etwas zu erfahren. So ist das nun mal in der Liebe. Wenn die Sphären zweier unterschiedlicher Leben aufeinandertreffen und sich überschneiden, dürfen gewisse grundlegende Dinge - Stimmungen, Vorlieben, Ängste, Ärgernisse -
    nicht verheimlicht werden. Das ist die Abmachung.
    Also erzählte er ihr nun davon.
    Von Adrianna und Arthur, von dem bitterkalten Tag des Wissenschaftswettbewerbs und den Lügen danach, von der peinlichen forensischen Untersuchung der Corvette und sogar von dem potenziellen Verlobungsgeschenk - einem Betonstück vom Beginn des Atomzeitalters. Sachs nickte, und Rhyme musste innerlich lachen. Weil er wusste, dass sie dachte: Was war denn so schlimm daran? Eine Schulliebe, ein paar Lügen, ein gebrochenes Herz. Im Arsenal der persönlichen Kränkungen waren das eher kleine Kaliber. Wie konnte etwas so Banales eine so tiefe Freundschaft zerstören?
    Ihr wart wie Brüder..
    »Aber hat Judy nicht gesagt, du und Blaine hättet sie besucht? Das klingt doch, als sei alles wieder in Ordnung gewesen.« »Oh, ja. Das haben wir. Adrianna war schließlich bloß mein
    235
    Highschoolschwarm. Sie war hübsch.. eine große Rothaarige, um genau zu sein.«
    Sachs lachte.
    »Aber sie wäre es wohl kaum wert gewesen, die Verbindung zwischen Arthur und mir auf Dauer zu beenden.«
    »Demnach steckt noch mehr dahinter, ja?«
    Rhyme sagte eine Weile nichts. Dann: »Nicht lange vor meinem Unfall bin ich nach Boston gefahren, um auf einer internationalen Konferenz über forensische Wissenschaft einen Vortrag zu halten.« Er trank einen Schluck Kaffee durch den Strohhalm. »Als ich danach in der Hotelbar saß, kam eine Frau zu mir, eine pen-sionierte Professorin vom MIT. Mein Nachname war ihr bekannt vorgekommen, und sie sagte, sie habe vor vielen Jahren mal einen Studenten aus dem Mittelwesten gehabt, einen gewissen Arthur Rhyme. Ob er und ich verwandt seien.
    Ich sagte, er sei mein Cousin. Da erzählte sie mir etwas Interessantes über Arthur. Er hatte seiner Bewerbung um einen Studienplatz keinen gewöhnlichen Aufsatz beigelegt, sondern eine wissenschaftliche Abhandlung. Der Text sei brillant gewesen, sagte sie. Originell, fundiert, rigoros - oh, falls du einem

Weitere Kostenlose Bücher