Der Tag, an dem das UFO vom Himmel fiel
1960.«
»Hmm.« Er lehnte sich zurück und streckte sich, während er darüber nachdachte. Der Stuhl, der nicht in bestem Zustand war, rollte rückwärts. »Das bedeutet, wir müssen zurückgehen bis zum Rosch ha-Schana 1959. Weißt du, welches Jahr das nach dem jüdischen Kalender ist?«
Ich wusste es nicht. Fand es aber recht tröstlich, dass er von Rosch ha-Schana gehört hatte und anscheinend wusste, dass es ein paar Monate vor dem Neujahrsfest aller anderen liegt. »Mal sehen, was wir da haben«, sagte er und beugte sich vor. »Also, hier haben wir 5723, was mir das aktuelle Jahr zu sein scheint. Und 5722, was demnach letztes Jahr war. Das sind die Jahre seit der Schöpfung, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Das ist ja direkt niedlich. Um nicht zu sagen lächerlich. Tantum malorum und so weiter und so fort. Das ist Latein. Ich schätze mal, du kannst kein Latein, oder?«
»Wie? Was … ?«
»Das alte Sprichwort. Tantum malorum religio suadere potuit
– ›Welch Übel hat die Religion gebracht!‹ Stammesmoral zum Beispiel. Außerdem Obskurantismus wie etwa der Glaube, die Welt sei vor sechstausend Jahren erschaffen worden. Oder dass es Leben ausschließlich auf der Hülle dieses Planeten gibt. Jetzt habe ich dich bestimmt verletzt. Ich sehe es dir an. Sag nicht, du bist religiös. Wirst du ein Rabbi oder so was?«
Idiot. Ich verkniff mir eine Grimasse. »Nein«, sagte ich. »Ich bin kein bisschen religiös. Und was diese Kalender angeht …«
»Ja, ja. Deshalb bist du ja hier, wegen der Kalender. Nicht, um mich plappern zu hören. Hier ist 5723, hier ist 5722. Und 5721, der bis zum September 1960 reicht. Tut mir leid, mehr haben wir nicht.«
»Das müsste reichen.« Ich sammelte die drei Kalender ein. »Warum werden die eigentlich im Archiv Seltener Bücher aufbewahrt?«
»Weiß der Himmel«, sagte er mit Blick auf die Kalender. »Wegen der unsterblichen Illustrationen wahrscheinlich. Hast du deinen Bibliotheksausweis dabei?«
Ich gab ihm meinen Ausweis. Er sah ihn an, er sah mich an. Ich meinte zu sehen, dass er nickte, was mich verunsicherte. Er steckte die Karte in eine Maschine und stempelte die Kalender ab. »Leider nur zur Lektüre innerhalb des Gebäudes. Du kannst sie an jedem Schalter abgeben, bevor du heute gehst. Du musst sie nicht extra wieder hier raufbringen.«
»Danke.«
Ich sah mir den aktuellen Kalender an. Er warb für ein anderes Bestattungsunternehmen als der Kalender in der Küche meiner Großmutter, aber ansonsten gab es keinen großen Unterschied. Jeder Monat war von einer farbenprächtigen Bibelillustration begleitet. Die meisten der Bilder kannte ich nicht. Als kleiner Junge hatte ich Bibelgeschichten geliebt, dann aber schon vor langer Zeit das Interesse daran verloren
und sie mehr oder weniger vergessen. Das Septemberbild, JAKOBS TRAUM IN BETH-EL, zeigte eine gewaltige, leuchtende, gewundene Treppe, deren oberes Ende in den Wolken verschwand. Engel in Gewändern wandelten darauf hin und her. Darunter stand: »Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum. Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder… Genesis 28,11-12.
»Hall- oo? Du bist doch nicht in eine andere Welt abgewandert, oder?«
Ich blickte von dem Bild auf, am ganzen Körper voller Gänsehaut. »Es hat mich nur … an was erinnert«, sagte ich und versuchte, es zu erklären. Doch die Erinnerung entglitt mir, und warum sollte ich mich überhaupt vor diesem schrägen Vogel rechtfertigen? Ich steckte die Kalender in meine Aktentasche und wollte gehen.
»Nicht so hastig«, sagte der Junge. »Ich muss mir deine Tasche ansehen, bevor ich dich rauslassen darf. Nichts Persönliches. Ist Vorschrift.«
Ich hievte sie auf seinen Schreibtisch. »Schicke Tasche«, sagte er.
»Danke.«
»Sieht nagelneu aus.«
»Ist sie auch. Die alte wurde mir gestohlen.«
»Ach du Schande. Hoffentlich war da nichts Wichtiges drin.«
»Nur das Manuskript eines Buches, an dem ich gerade schreibe.«
»Na, das ist wirklich schade. Solche Sachen solltest du zu Hause lassen, an einem sicheren Ort.«
»Es war zu Hause. An einem Ort, den ich für sicher hielt.«
Er schüttelte den Kopf. »Anscheinend sind wir nicht mal mehr zu Hause sicher. Wenn man davon ausgeht, dass wir es jemals waren …« Und die ganze Zeit über durchsuchte er meine Aktentasche. Er holte das Buch hervor, das ich mit nach
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