Der Tag an dem die Sonne verschwand
Wirklichkeit hatte uns wieder. Fast acht Stunden Halluzinationen lagen hinter uns. Unterhaltsame Halluzinationen. Und bis heute bin ich froh, dass der LSD-Rausch nicht in einen Horrortrip umgeschlagen war. Ich schlief anschließend sehr lange und fühlte mich am nächsten Tag bestens. Keine Spur von Kater oder schlechter Stimmung.
Ungefähr 20.00 Uhr.
Habe den Tisch abgeräumt, das verschmutzte Geschirr aus dem Fenster geworfen (heute mal keinen Abwasch!) und Igor zurück an seine Wand gehängt. Bin momentan dabei, mich mit Kirschwasser voll laufen zu lassen. Das ist mein erstes Besäufnis seit Juli, seit Katastrophenbeginn. Igor hat jetzt wieder weißgraue Raufaseraugen.
Warum schneit es eigentlich nicht mehr?
Oft ging Marie, wenn wir zusammen den Abend verbrachten, früher ins Bett als ich. Kam ich dann später ins Schlafzimmer, ich hatte noch gelesen oder Fernsehen geschaut, wachte sie manchmal schlaftrunken auf und flüsterte mir zu, dass sie hungrig sei. Ich holte ihr dann immer eine Banane aus der Küche, hockte mich zu ihr auf die Bettkante und fütterte sie.
Das ist eine rührende Erinnerung. Im Schlafraum brannte nur ein ganz schwaches Licht, sie hatte sich ein wenig aufgerichtet und aß und kaute mit geschlossenen Augen. Mein Julchen. Wenn die Banane weg war, streichelte ich ihr über die Wangen, gab ihr einen Kuss und ihr Kopf sank wortlos zurück in das Kopfkissen. Dann schlief sie sofort wieder weiter. Eine für mich genauso rührende Erinnerung ist dieses Bild: Ich sitze mit ihr am Meer, irgendwo in den Bergen, an einem See oder auf einer bunt blühenden Wiese – und wir essen zusammen unsere Wanderbrote.
Immer wenn wir längere Wanderungen unternahmen, hatte ich einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, gefüllt mit Getränken, Broten und Obst. Und dann machten wir an einer besonders schönen Stelle Rast, genossen die Natur, erzählten, plauderten, lachten, aßen und tranken.
Ich sehe uns zum Beispiel gerade auf einer Bank in Österreich sitzen, an einem Berghang, unter uns ein lauschiges Tal und vor uns ein Dreitausender: ein grandioser Anblick! Die Sonne scheint sommerschön, warmer Wind weht über unsere Haut – und losgelöst vom Alltag, der Vergangenheit und der Zukunft essen wir unsere Brote und Marie sagt: »Wie gut es uns doch geht!«
Das fand ich damals auch, dennoch nahm ich die glückliche Stunde als eine viel zu große Selbstverständlichkeit. Ich habe nicht bewusst gedacht: Na, so eine Situation wird es für uns noch hundert und tausend Mal geben.
Aber ich bin davon ausgegangen! Und genau diese Haltung hat verhindert, das Glück umfassend und tief wertzuschätzen.
Nun sind mir Leben und Zeit durch die Finger geronnen; und ich sitze alleine in meiner Wohnung und unterhalte mich mit einer alten Holzmaske.
25. EINTRAG
Ich habe lange nicht geschrieben. In einer Woche ist Weihnachten. Draußen hat sich seit meinem letzten Eintrag nichts geändert: Stille, Kälte, Dunkelheit. Kein Nebel, kein neuer Schneefall. Ich führe ein strikt geregeltes Leben gemäß meinen alten Ritualen. Habe seit meiner »Feier« keinen Alkohol mehr getrunken. So besoffen wie nach der Entenmahlzeit mit Igor war ich noch nie zuvor gewesen. Hatte danach zwei Tage starke Kopf- und Magenschmerzen. Ich werde überhaupt keinen Alkohol mehr trinken.
Fünf Monate lebe ich nun schon in diesem Rätsel hier.
Die fast optimistische Stimmung, die ich vor Wochen hatte, als Lärm und Nebel verschwunden waren, gibt es nicht mehr. Dafür verdüstert sich mein Gemüt zusehends. Ich bin dabei allerdings nicht verzweifelt – sondern ernst und gefasst. Wird mein Herz jetzt kalt? So kalt wie die Welt da draußen? Stirbt die Hoffnung?
Ich würde so gerne an ein neues Leben nach dem Tod glauben. Aber ich kann es nicht. Die Natur, Gott, das Universum, was auch immer, hat mich und mein Bewusstsein zufällig geschaffen, ich existiere für eine gewisse Zeit, und danach verschwinde ich wieder – auf ewig. So wird es wohl sein.
Ich betrachte meine Hände und Arme und stelle mir vor, wie sie verfaulen und zerfallen werden. Kein Weg führt daran vorbei. Das Leben endet tödlich. Und mit hundertprozentiger Sicherheit kommt der Tag, an dem die Fäulnis beginnt. Wie werden die letzten Sekunden sein? Vielleicht bricht eine Klaustrophobie in mir aus, weil sich das Gehirn in der schnell schrumpfenden Endlichkeit unentrinnbar eingeschlossen fühlt. Gerät es in Panik? Kämpft es? Oder übergibt es sich willenlos dem Nichts?
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