Der Tag an dem die Sonne verschwand
Weiß es überhaupt, was ihm bevorsteht? Nimmt es Licht und Farben wahr? Oder ist das Ende schwarz? Vielleicht aber gleicht das Leben einem Traum – und nach dem Sterben wacht man auf, womöglich in einer Welt ewigen Leidens. Warum eigentlich gehen so viele Religionen davon aus, dass dem Tod Gutes folgt oder zumindest folgen kann? Vielleicht folgt ihm immer nur Böses, und die irdische Existenz ist ein Geschenk, eine Gnade, kurzfristig, das heißt für ein paar Erdenjahre, den ewigen Schmerzen und der ewigen Angst nicht ausgesetzt zu sein. Vielleicht aber ist alles noch unbegreiflicher: Könnte es sein, dass ich sowohl im Hier und Jetzt lebe und zugleich eine Existenz in einer Jenseitigkeit führe, von der ich als Mensch nichts ahne, während aber mein jenseitiges Ich um das diesseitige Dasein weiß, es beobachtet, mit ihm untrennbar verbunden ist …
Das Bewusstsein ist ein Fluch.
Als Marie beerdigt wurde, regnete es in Strömen. Während der gesamten Zeremonie war ich nicht wirklich bei Sinnen. Ich beobachtete mich, schaute mir die vielen Trauergäste an – und wunderte mich, dass überhaupt kein Gefühl in mir aufkam. Ich konnte nicht weinen, ich konnte aber auch nicht sprechen, und die Worte des Pfarrers (Maries Familie hatte auf eine kirchliche Beerdigung gedrängt) zogen ungehört an meinen Ohren vorbei. In der Trauerhalle saß ich zwischen Maries Bruder Marko und ihrer vor Fassungslosigkeit zitternden betagten Mutter Edith. Marie und ich hatten Edith oft im Altenheim besucht (Ediths Mann war schon in den Sechzigerjahren gestorben), ich mochte die alte Dame wirklich sehr, aber ich war komplett außerstande, ihr nun beizustehen, sie zu trösten. Ich konnte sie nicht einmal anfassen oder umarmen. Der Pfarrer redete und redete, in der kühlen Trauerhalle roch es wie in einem Blumengeschäft und an die hohen, gelblich gefärbten Fensterscheiben prasselte der Regen. Marie lag in einem schlichten weißen Sarg, den ihre Mutter ausgesucht hatte. Er war geschlossen. Niemand sollte Marie mehr sehen. So hatten es uns der Bestatter und davor auch schon die Ärzte nahegelegt. Sie war durch den Unfall derartig entstellt, dass man sie wohl nicht mehr herrichten konnte. Ein mit Stahlträgern beladener LKW hatte ihr die Vorfahrt genommen und ihren Kleinwagen an der Betonsäule einer Brücke regelrecht zerquetscht. Ihre genauen Verletzungen habe ich nie erfragt, wollte sie gar nicht wissen. Und so konnte ich mich damals nicht wirklich von ihr verabschieden. Später habe ich immer wieder gedacht: Wäre es doch nur möglich gewesen, sie noch einmal zu sehen, sie noch einmal zu berühren! Vielleicht hätte ich dann ihr Ende und die damit verbundene Endgültigkeit besser begreifen können. Ob es wirklich so gewesen wäre, weiß ich natürlich nicht.
Ich saß wie in Trance auf meinem harten Stuhl, wachte ab und zu auf, dachte sonderbare Gedanken, um dann wieder schnell tief in mich zurückzufallen.
Ich erinnere mich, dass ich auf die Tür der Trauerhalle starrte, in der festen Überzeugung, jeden Moment müsste nun endlich auch Marie hereinkommen.
Ich erinnere mich, dass der Pfarrer kleine weiße Speichelreste in seinen Mundwinkeln hatte, während er sprach, und ich ein paarmal demonstrativ meine Mundwinkel mit dem Zeigefinger und dem Daumen der rechten Hand abrieb, um ihn zu animieren, genau dasselbe zu tun, was mir natürlich nicht gelang.
Und ich erinnere mich, dass ich angesichts des weißen Sarges an Schneewittchen und die sieben Zwerge denken musste, obwohl Schneewittchen ja in einem Glassarg gelegen hatte.
Überhaupt, dieser Sarg, dieses hochglanzlackierte Behältnis dort vorne – darin sollte meine Marie liegen? Das war für mich so unbegreiflich, dass ich es einfach nicht glaubte.
Laute Musik riss mich schließlich heraus aus meinen seltsamen Gedankenwelten, aus meinem Dämmerzustand. Der Pfarrer hatte seine Ansprache beendet, und über die Lautsprecheranlage erklang in der Trauerhalle Johann Sebastian Bachs Air. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, wer das veranlasst hatte, mochte doch Marie genau dieses Stück überhaupt nicht. Sie fand es zu gefühlsduselig, und einmal waren wir sogar aus einem Konzert vorzeitig gegangen, weil am Ende die Air gegeben werden sollte; was mich allerdings nicht sonderlich geärgert hatte, da ich ohnehin kein großer Bachfreund war.
Es wurde also bei ihrer Trauerfeier die Air gespielt, und um mich herum weinten viele, am lautesten Edith. Irgendwann nahm Marko meine Hand und
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