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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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darunter zu leiden. Vermute ich. Wie in eine tiefe Meditation versunken hängt er an seinem Nagel, hat den Blick für die Welt ja ohnehin längst verloren, ist ernst und, ich glaube, abgeklärt. Es ist ihm wohl egal, ob ich mit ihm spreche oder ob ich schweige.
     
    Musik höre ich überhaupt keine mehr. Musik ist Leben, vielleicht das größte Lebenselixier überhaupt. Ich mag in meiner toten Welt damit nicht konfrontiert werden. Sie tröstet mich nicht mehr.
     
    Musste in letzter Zeit oft an Gregor Samsa denken. Wie er am Morgen in seinem Bett aufwacht und er nicht mehr Mensch ist, sondern ein auf dem Rücken liegender Riesenkäfer, ein ungeheures Ungeziefer, mit vielen, vielen Beinen. Ob Kafka, der Dichter, vor so etwas Angst hatte? Könnte eine solche Verwandlung vielleicht sogar in Wirklichkeit geschehen? Über Nacht? Das fehlte mir noch!
    Als Kind stellte ich mir oft vor, oder sagen wir besser, hatte ich die Angst, am Morgen in einem fremden Bett, in einer fremden Wohnung, in einer fremden Stadt, bei fremden Eltern aufzuwachen. Ich weiß noch genau, dass ich unter meinem Holzbettrahmen, am äußersten rechten Rand, etwa in Kopfhöhe, drei kleine Reißzwecke eingedrückt hatte. Sie dienten mir als Erkennungsmerkmal, wieder in der richtigen Realität aufgewacht zu sein. Noch mit geschlossenen Augen, ich traute mich nicht, sie vorher zu öffnen, ertastete ich jeden Morgen die drei Reißzwecke, und sie waren dann das Signal für mich: Entwarnung! Alles in Ordnung! Mach die Augen auf. Es ist dein Bett. Dein Zuhause.
    Dass ich eventuell zusammen mit meinem Bett in einer anderen Wohnung, bei anderen Eltern hätte gelandet sein können, daran habe ich nie gedacht. Ich glaube, erst mit elf oder zwölf Jahren verloren sich diese beklemmenden Fantasien.
     
    Als Gregor Samsa vor seinem Vater davonläuft, bewirft dieser ihn mit Äpfeln – ein Apfel trifft Gregors Käferrücken, wo er stecken bleibt und dann langsam verfault. Gregor lebt noch Wochen mit dem faulenden Apfel im Rücken, und rundherum entzündet sich alles. In den Morgenstunden eines Frühsommertages stirbt er schließlich.
    Die Äpfel, die in mir faulen, habe ich selbst geworfen.
     
    Es schneit nicht mehr. Manchmal wünsche ich mir die durch das Dunkel rasenden Schneeflocken wieder zurück. Sie suggerierten mir stets Bewegung und Geschehen. Schaue ich jetzt aus dem Fenster, so liegt alles starr und stumm vor mir. Wenn ich es recht bedenke, war der ständige Schneefall weniger angsteinflößend als der jetzige Zustand. Ja, ich weiß, es gibt weder Lärm noch Nebel. Das ist schon ein großer Vorteil. Aber es fällt mir immer schwerer, ihn zu würdigen.
    Meine Sehnsucht nach Licht schwindet auch dahin. Meistens brennt hier im Wohnzimmer nur eine Kerze. Zum Lesen allerdings zünde ich dann mehrere an. Mein Ofen funktioniert weiterhin gut, es ist wohlig warm. Das genieße ich besonders, wenn ich mich entleert habe. Seit das Wasser nicht mehr fließt, also schon seit vielen Wochen, gehe ich in der Regel einmal täglich auf den Balkon der unter mir liegenden Anna-Thomas-Wohnung und verrichte dort meine Notdurft. Dabei friere ich immer schrecklich. Gewiss, ich könnte mich auch auf einen Eimer in meinem geheizten Zimmer setzen, aber irgendwie ist mir das unangenehm, es wäre für mich der Beginn einer schleichenden Verwahrlosung – und dagegen kämpfe ich an. Die kleinen Geschäfte erledige ich ins Waschbecken meines Badezimmers und gieße danach reichlich geschmolzenes Schneewasser hinterher.
    Auf meine Körperhygiene achte ich nach wie vor. Obwohl mir allzu oft ein lautes Wozu eigentlich? durch den Kopf hallt. Aber das ignoriere ich. Ich rasiere mich sogar alle drei Tage.
    Das Essen allerdings ist eine Qual. Ich habe überhaupt keinen Appetit. Ich esse nur aus Vernunft. Aus Vernunft? Welch merkwürdige Aussage! Alkohol mag ich nicht anrühren.
     
    Manchmal stehe ich lange am Fenster und beobachte die bewegungslosen Wolken über mir. Einmal mit den Blicken einen Stern erhaschen – das wäre was. Ob es noch Sterne gibt? Und den Mond? Vielleicht ist ja alles versunken, vergangen? Und ich existiere hier im Nirgendwo, wie auf einer kleinen Insel, die jede Sekunde untergehen kann. Vielleicht ist die Erde in ein schwarzes Loch gestürzt? Vielleicht ist das ganze Universum zusammengefallen? Und nur Rest-Wirklichkeiten sind, durch Zufall oder gewollt, erhalten geblieben. Vielleicht lebe ich in einer Rest-Wirklichkeit?
    Und morgen ist Weihnachten. Dass ich nicht lache!

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