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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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drückte sie fest, in der letzten Reihe kreischte ein Kind, das ich nicht kannte, und vorne, auf der grauglatten Steinwand hinter dem Sarg, sah ich, wie von einem Video-Beamer dorthin projiziert, Maries Sturz vor die Kuchentheke im Dünencafé; ihr Hut flog auf eine Torte, sie lachte, und dann sah ich auch mich dort, sah uns beide, wie wir uns mit Linien-Aquavit zuprosteten …
    Irgendwann war die Air zu Ende, ein Trauerzug formierte sich, und wir alle schritten hinter dem weißen Sarg in Richtung Grabstätte, im Regen. Meine Erinnerungen verlieren sich und setzen erst in dem Moment wieder ein, als ich am Grab stehe. Alleine und nach unten blickend. Ich sehe das weiße Holz des Sarges, darauf viele Handvoll Erde geworfen, und dann sacke ich zusammen, halte mich am Begrenzungsstein des Nachbargrabes fest, bin stumm und ohne Tränen, werfe meinen Strauß bunter Wiesenblumen in die Gruft, mir wird schwarz vor Augen, bin wohl kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, nehme auch noch eine Handvoll Erde, bringe es aber nicht fertig, sie auf den Sarg zu schmeißen, richte mich auf, streue mir die Erde vor und auf die Füße, höre, wie Marko sagt: »Komm, Lorenz, komm«, spüre seine Hand auf meiner Schulter …
    Was dann noch geschah, habe ich vergessen, komplett vergessen. Wie man mir später erzählte, waren wir nach der Beerdigung in einem Restaurant – und Markos Freundin Nina soll mich anschließend nach Hause gefahren haben.

26. EINTRAG
    Ein Tag vor dem Heiligen Abend, Nachmittag. Keine Veränderung der äußeren Umstände.
     
    Ich denke an letztes Jahr. Am Nachmittag des 23. Dezember fuhr ich zu Maries Grab, wie jedes Jahr seit ihrem Tod, und brachte ihr einen kleinen Weihnachtsbaum. Aber nicht irgendeinen, sondern eine sogenannte Zuckerhut-Zwergfichte. Als ich ihr Grab zum ersten Mal weihnachtlich schmücken wollte, entdeckte ich zufällig in einem Garten-Center diese Fichtenart. Der kleine Baum, ungefähr achtzig Zentimeter hoch, eroberte gleich mein Herz. Zum einen sah er wirklich ausgesprochen niedlich aus, und zum anderen überkam mich sofort eine Flut von Assoziationen, die mich in unsere gemeinsame Vergangenheit zurückführten. Vor Jahren hatten Marie und ich eine dreimonatige Reise quer durch Venezuela und Brasilien unternommen und waren natürlich auch in Rio de Janeiro gewesen, auf dem Zuckerhut. Diese Reise gehörte zu unseren spektakulärsten Unternehmungen, und wir hatten uns die ganze Zeit über, trotz bisweilen heftiger Strapazen, extrem gut verstanden. Besonders die Woche in Rio zählt zu meinen glücklichsten Erinnerungen. So war die Wahl im Garten-Center schnell getroffen. Seitdem brachte ich ihr zu jedem Weihnachtsfest ein solches Bäumchen in einem Tontopf und stellte es neben ihren Grabstein; immer geschmückt mit bunten Holzkugeln und roten Schleifen, die ich bei ihrer Wohnungsauflösung im Keller gefunden und an mich genommen hatte. Jedes Jahr, so gegen Ende Januar dann, entschmückte ich das kleine Bäumchen wieder, nahm es zunächst mit zu mir nach Hause, und in den ersten Frühlingswochen schenkte ich ihm die Freiheit, indem ich es in einer etwas verwilderten Stadtparkanlage unweit meiner Wohnung irgendwo einpflanzte. Später, bei jedem Spaziergang dorthin, zwinkerte ich den kleinen Fichten zu – ich wusste genau, wo welche stand -, und so war ich in Gedanken wieder ganz nahe bei Marie.
    Dieses Jahr nun gibt es keine Zuckerhut-Zwergfichte auf Maries Grab. Sondern nur Schnee. So viel Schnee. Natürlich wird auch ihr Grabstein schon lange darunter versunken sein. Edith hatte sich für einen mittelgroßen, schwarzen Marmorstein entschieden, auf dem lediglich stand: UNSERE LIEBE MARIE. Keine Daten, kein Nachname.
     
    Was ist eigentlich »Gegenwart«? Ich glaube, dass ich in meinem Leben nur sehr wenig Gegenwart erlebt habe. Die meiste Zeit war ich mit meinen Gedanken entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit. So selten im Hier und Jetzt! Erst die großen Unglücke, Maries Tod und die aktuelle Katastrophe, haben mir das klargemacht. Jetzt aber ist es zu spät, aus dieser Einsicht Konsequenzen zu ziehen.
     
    Mein Interesse am Lesen lässt merklich nach. Es erscheint mir zunehmend sinnlos. Allerdings zwinge ich mich noch dazu. Obwohl ich manchmal denke, statt zu lesen könnte ich auch einfach nur dasitzen und vor mich hinstarren. Es würde keinen Unterschied machen. Auch mein Interesse an Igor schwindet. Ich spreche nur noch selten mit ihm. Er scheint jedoch nicht sonderlich

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