Der Tag an dem die Sonne verschwand
Weihnachten in der Rest-Wirklichkeit. Nein! Weihnachten gibt es nicht mehr. Auch kein Silvester oder ein neues Jahr. Es gibt überhaupt nur noch sehr wenig – außer meinen Gedanken und meinen Erinnerungen.
Manchmal erscheint mir mein eigenes Leben wie ein Buch, wie ein Roman. Und selbst Marie wird darin zu einer fiktiven Gestalt.
Wäre es bloß so!
27. EINTRAG
Später Nachmittag. Heiligabend.
Warum will der Mensch eigentlich leben? Welch ein machtvoller Trieb, der Selbsterhaltungstrieb! Warum hängt der Mensch so sehr an seinem Leben? Weil es außer dem Tod keine Alternative gibt! Aber niemand weiß, was der Tod ist. Oder?
Eigentlich tritt der Tod doch schon mit der Sekunde der Geburt in unser Leben. Die uns gegebene Zeit beginnt genau in diesem Moment abzusterben, zu schrumpfen. Tag um Tag näher dem Ende, näher dem letzten Atemzug. Egal, wie viele Jahre vor einem liegen.
Meine ganze Vergangenheit ist schon im Besitz des Todes.
23.30 Uhr.
Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht …
Stille Nacht! Heilige Nacht! …
Jetzt habe ich keine Angst mehr. Vor nichts. Auch nicht vor dem Sterben. Es tut gut, so zu empfinden. Es ist vollkommen ruhig in mir. Ein ganz neues Gefühl! Ich hatte immer so große Angst vor dem Ende. Schon seit meiner Kindheit. Aber jetzt, da ich keine Hoffnung mehr habe (und ich habe nicht mehr die geringste Hoffnung), ist die Angst vor dem Tod und dem Sterben verschwunden.
Wie seltsam.
28. EINTRAG
Dieser Eintrag wird der letzte sein! Denn ich habe den Entschluss gefasst, meine Wohnung in wenigen Stunden für immer zu verlassen!
Heute ist der 30. Dezember. Seit gestern bereite ich alles vor. Ich werde ausgerüstet sein mit genügend Proviant, meinen Tiefschneeschuhen, der Polarkleidung, einem guten, wärmenden Schlafsack und diversen Kleinigkeiten wie Taschenlampe, Schaufel, Seil, Hacke und so weiter.
Ich habe nur noch ein Ziel, einen Wunsch: Ich will zu Marie!
Ich will zu Maries Grab! Und dort sterben. Ich werde noch einmal dorthin wandern. So wie damals, ein paar Wochen nach ihrer Beerdigung. Nur wird es diesmal ungleich beschwerlicher werden. Doch das ist mir egal. Ich will es schaffen! Und wenn es dreißig, vierzig oder mehr Tage dauert! Marie ist mein Ziel!
Ich werde ihr Grab auf dem Friedhof finden, trotz der Schneemassen, da bin ich sicher. Denn einige Meter neben ihr steht ein Kriegerdenkmal, monströs gebaut, bestimmt sechs, sieben Meter hoch. Ein guter Orientierungspunkt also. Wenn ich dann dort bin, werde ich ihr Grab freischaufeln, meine Polarkleidung ausziehen und mich auf den gefrorenen Boden legen, zum Sterben. Ich werde bei meiner Marie sein, bei meinem Julchen. Und alles ist getan. Und alles ist gut.
Zum Schluss nun, bevor ich hinaus in die Nacht gehe, möchte ich noch ein paar letzte Worte aufschreiben, die mir wichtig sind:
Ich hatte ein gutes Leben. Aber ich habe so vieles falsch gemacht – und meine Zeit nicht genutzt.
Ich bitte all die um Vergebung, die wegen mir leiden mussten, die ich vernachlässigt und belogen habe, denen wegen meiner Unzulänglichkeit Schaden oder Unglück widerfahren ist.
Ich bitte meine Marie um Vergebung. Ich schäme mich. So sehr. Heute würde ich alles dafür geben, das Geschehene wiedergutmachen zu können. Aber dazu ist es ja jetzt zu spät. Viel zu spät.
Ich weiß nicht, warum ich so wurde, wie ich schließlich war.
Vater und Mutter tragen daran keine Schuld. Vielleicht fließt schlechtes Blut in mir. Von Geburt an. Nein! Das klingt nach Erklärung, nach Entschuldigung, nach Rechtfertigung. Also will ich diesen Gedanken wieder verwerfen. Jeder ist für sein Handeln verantwortlich. Immer. Und mein Handeln war bestimmt von Trägheit und Eigensucht. Von Selbstherrlichkeit und Gier.
Vergebt mir! Ihr, die es nicht mehr gibt.
Aber selbst wenn es euch noch gäbe, und ihr würdet sagen: »Es ist gut, alles ist gut!« – ich wäre nicht erleichtert.
Meine Taten sind, wie sie sind. Und kein Mensch könnte sie von mir nehmen.
Aber ich gehe nicht in Bitterkeit. Ich habe gelernt – und dafür bin ich dankbar.
Ich will zu Marie.
Mein Herz erlischt.
Adieu.
Ende der Aufzeichnungen. 30. Dezember, 9.30 Uhr.
29. EINTRAG
Der 23. Januar.
Etwas Unfassbares ist passiert. Etwas Unglaubliches …
Ich bin wieder in meiner Wohnung! Zurück in meiner Wohnung! Und das schon seit zehn Tagen. Aber erst jetzt finde ich die Ruhe, zu schreiben. Ich kann noch immer nicht glauben, was geschehen
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