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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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ist. Alles hat sich für mich verändert, obwohl die Wetterverhältnisse genauso sind wie vor meinem Aufbruch. Es ist kalt, dunkel und windstill – aber das interessiert mich im Moment nicht. Es ist zweitrangig.
     
    Ich will erzählen, was sich zugetragen hat:
    In den Morgenstunden des vorletzten Dezembertages verließ ich Wohnung und Haus. Schwer bepackt, entschlossen, mein Ziel vor Augen. Ohne die geringste Angst, trotz der hohen Risiken, die mein Vorhaben barg. Der Wille, auf Maries Grab zu sterben (und nur dort!), war so stark, dass ich keine Sekunde daran zweifelte, den weiten Weg zu schaffen. Und ich hätte ihn sicher auch geschafft. Aber dann sollte es anders kommen, ganz anders.
    Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich brauchte, um lediglich meinen und den benachbarten Stadtteil zu durchwandern. Der so tiefe Schnee, das schwere Gepäck und meine schlechte Kondition, bedingt durch den monatelangen Aufenthalt im Haus, ließen mich nur im Schneckentempo vorankommen.
    Schon vom ersten Schritt an war ich ohne Gedanken. Ich starrte nach vorne, blickte selten auf zu den verlassenen Häusern, die wie schwarze Riesensärge meinen Weg säumten, stapfte vor mich hin. Wenn ich nachdachte, dann nur darüber, welche Straße ich als nächste nehmen sollte. Ich empfand die einsame Schneedunkelheit, durch die ich mich mühte, als etwas Neutrales. Nichts war mir unheimlich. Alles war mir egal. Ich wollte nur zu meinem Ziel, auch wenn es noch sehr weit entfernt lag. Ab und zu ruhte ich mich kurz in irgendwelchen Hauseingängen aus, trank etwas und marschierte dann rasch weiter. Meine erste Nacht verbrachte ich in einer Tankstelle. Ich musste nicht einmal den Eingang freischaufeln, da das großflächige Dach über den Zapfsäulen bis an die Tür heranreichte und sie von Schnee frei gehalten hatte. Es war eine Tankstelle mit üppigem Sortiment: Lebensmittel von Dosenwurst bis Nougatcreme und Getränken aller Art. Um meine Vorräte zu schonen, nahm ich mir, was ich brauchte, wonach mir der Sinn stand. Ich aß, trank, rauchte ein paar Zigaretten, rollte dann meinen Schlafsack aus und stürzte aufgrund der großen Erschöpfung binnen Sekunden in einen tiefen Schlaf. Da ich keine Uhr bei mir hatte, weiß ich nicht, wie lange ich schlief. Nach dem Aufwachen aber fühlte ich mich erholt, aß etwas, packte meine Sachen zusammen und machte mich wieder auf den Weg.
    Vom zweiten Tag gibt es nichts zu berichten. Ich wanderte durch die überall gleich aussehende, verlöschte Welt, legte ab und zu kleine Pausen ein und schlief schließlich im Büro einer Autowerkstatt.
    Der dritte Tag war wesentlich kräftezehrender als die beiden ersten, weil immer weniger Häuser an meiner Route lagen und ich nicht im Schutz der Mauern gehen konnte. Je freier die Flächen wurden, desto höher lag der Schnee. Für die Nacht allerdings fand ich dann doch noch eine befestigte Unterkunft. Ein kleines Einfamilienhaus an einer Landstraße. Ich schaufelte zwei Fenster frei, zerschlug die Scheiben und kletterte mit eingeschalteter Taschenlampe hinein. Und genau in diesem Moment überkam mich ein ungeahntes Grauen. Ich stand in einem fremden Haus, das einst Lebensmittelpunkt lebendiger Menschen gewesen war, überall konnte ich ihre Spuren sehen. Das machte mir Angst und ließ mich die Realität, in der ich nun schon so lange existierte und mit der ich mich ja eigentlich abgefunden hatte, noch einmal in ihrem ganzen Schrecken erleben. Der Raum, in den ich eingestiegen war, schien das Esszimmer des Hauses gewesen zu sein, denn in der Mitte stand ein großer Tisch, gedeckt mit vier Tellern. Und auf jedem Teller befanden sich noch Speisereste: Nudeln, Kartoffeln, Fleischstücke, Gemüse, alles zu Klumpen gefroren. Auch die Getränke in den Gläsern waren erstarrt. Kreuz und quer lagen die Bestecke herum, und auf einem Stuhl saß ein großer brauner Teddybär, der eine steinharte Scheibe Brot in seinen Tatzen hielt und mich mit melancholischen Augen anschaute. Wie gruselig mich das alles anmutete.
    Ich ging durch die anderen Räume. Offensichtlich hatte eine Familie mit Kindern in dem Haus gelebt. Es gab zwei Kinderzimmer, zwei kleine Bäder, ein Schlafzimmer, eine Küche, das Esszimmer und daneben einen Raum, der wohl wenig benutzt worden war. Zumindest sah es so aus. Vielleicht hatte er der Familie als Gästezimmer gedient. Und weil in diesem Raum so gut wie keine persönlichen Spuren vorzufinden waren, entschied ich mich, dort zu lagern. Meine immense Müdigkeit

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