Der Tag an dem die Sonne verschwand
sechs Grad.
26. März. 8.20 Uhr. Es gibt einen Tag-Nacht-Rhythmus! Gestern Abend, wieder so gegen 20.15 Uhr, wurde der Himmel ganz finster. Und heute Morgen, kurz nach sieben, hellte er erneut auf. Jetzt sieht es draußen so aus wie gestern den ganzen Tag über.
20.20 Uhr. Stockfinster der Himmel. Keine Spur mehr von Helligkeit. Nun ist richtige Nacht! Wir sind voller Hoffnung, dass wir uns in einem positiven Veränderungsprozess befinden, dass es bald auch wieder richtige Tage geben wird. Die Hoffnung stellt die Angst komplett in den Schatten.
27. März. Später Abend. Heute war alles so wie gestern.
29. März. 9.15 Uhr. Finn tanzt um den Tisch, tanzt um mich herum. »Schreib es auf! Schreib es auf!«, ruft er mir zu. Wir haben alle Fenster geöffnet. Wir frieren – aber das ist jetzt völlig egal.
Es ist noch heller geworden! Wie hell? Schwer zu beschreiben. Nicht wirklich hell. Es sieht aus, als würde es dämmern. Die Wolken tragen ein milchiges Grau. Man kann sogar schon ihre Konturen gut erkennen. Fantastisch! Seit sieben Uhr ist es so.
»Lass uns rausgehen auf einen Balkon«, sagt Finn gerade, »wir nehmen das Akkordeon mit, wir müssen dem Licht ein Willkommensständchen bringen.«
Es ist also ein Veränderungsprozess im Gange. Jetzt sind wir uns sicher. Und offensichtlich ein guter. Wie grandios!
Ja, huldigen wir der Dämmerung!
44. EINTRAG
Eine Woche ist seit meiner letzten Notiz verstrichen. Unsere Euphorie hat sich wieder gelegt. Denn nichts Neues ist passiert. Die Tage vergehen im Dämmerlicht. Was natürlich einen ungeheuren Fortschritt bedeutet, aber wir hatten ja so sehr auf noch mehr Helligkeit gehofft, hatten uns sogar schon die Sonne am Himmel ausgemalt. Typisch Mensch! Nie ist es genug, immer muss es mehr sein …
Vielleicht bleibt es jetzt so, wie es ist. Vielleicht gibt es nie mehr eine Veränderung. Vielleicht kommt sogar die ewige Dunkelheit zurück. Alles ist möglich. Zu jedem Zeitpunkt.
Im Großen und Ganzen gehen wir wieder unseren normalen Alltagsaktivitäten nach. Sind aber keineswegs in trauriger Stimmung. Im Gegenteil, nach dem anfänglichen Gefühl doch recht großer Enttäuschung, dass es nicht noch heller geworden ist, haben wir uns jetzt mit allem arrangiert und erfreuen uns an den vereinzelten Photonen, die uns hier erreichen. (Obwohl natürlich tief in uns die Sehnsucht nach blendendem und ungefiltertem Licht unermesslich ist.)
Vor ein paar Tagen haben wir unter den von mir im Haus eingelagerten Büchervorräten ein kurioses Buch entdeckt. Es heißt So bin ich und besteht nur aus Fragen, die der werte Leser, wenn er denn mag, schriftlich beantworten soll. Direkt unter jeder Frage ist eigens dafür eine recht große linierte Fläche angelegt. Am Ende, so verspricht der Autor, habe man eine schlüssige Antwort auf die große Frage, die alle Menschen beschäftigt: Wer bin ich eigentlich?
Nun, das ist sicher zu viel versprochen, aber das Buch macht uns viel Freude und ist ein guter Zeitvertreib. Denn wir gehen Frage für Frage durch, jeder schreibt die Antwort auf ein Blatt Papier, anschließend lesen wir sie uns vor – und diskutieren darüber.
Ein wenig erinnert mich die ganze Sache an früher. Als Jugendliche stürzten wir uns auf jeden sogenannten Psycho-Test in Illustrierten und Tageszeitungen, um so etwas mehr über uns selbst zu erfahren. Die Testergebnisse waren natürlich in der Regel reiner Blödsinn, aber wir hatten unseren Spaß.
So bin ich ist da schon interessanter, weil man gezwungen ist, auf ausgefallene Fragen konkret zu antworten – und diese Antworten wiederum sehr viel über einen selbst aussagen.
Ich habe Finns und meine Antwortzettel hier neben mir liegen und mache mir nun die Mühe, einige der Fragen mit unseren jeweiligen Antworten zu dokumentieren. Finn ist ohnehin gerade ziemlich beschäftigt. Er hat heute Nachmittag beim Herumstöbern in meinem Bücherregal den Herrn der Ringe entdeckt – und nun liest er und liest und ist gar nicht ansprechbar …
Also, die Fragen und unsere Antworten: Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?
FINN: Vorgestern, beim Mittagessen. Ich mochte Lorenz nicht enttäuschen und sagte, das Essen sei köstlich – aber es war doch ein wenig versalzen.
LORENZ: Als Finn mich fragte, ob ich Maries Intimgeruch genauso gemocht habe wie er den Geruch von Asha. Ich antwortete: ja. Aber das stimmt nicht! Ich wollte nur nichts Schlechtes über Marie sagen.
Was ist Ihre sympathischste
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