Der Tag, an dem du stirbst
Charlie. Ich habe Ihre Erbsenpistole gesehen. Hübsches Ding, dachte ich, besonders dieser Rosenholzgriff. Also, noch einmal gefragt: Wenn Sie eine 22er mit Rosenholzgriff besitzen, die wir gestern Abend definitiv nicht beschlagnahmen konnten, wie kommt dann die Bostoner Polizei darauf, eine 22er mit gummiertem Griff Ihnen zuzuordnen, eine Waffe, mit der drei Menschen erschossen wurden?»
«Warum haben Sie Ihre Nase in meine Tasche gesteckt?»
«Erinnern Sie sich nicht? Ich habe ein Faible für angeknackste Frauen.»
«Warum melden Sie nicht, dass Sie mich haben?»
«Ich bin noch unentschieden. Lassen Sie hören.»
Ich knabberte an meiner Unterlippe und sagte schließlich: «Ich habe die drei Kinderschänder nicht erschossen. Zugegeben, ich besitze eine Waffe, die ich nach unserer … Unterhaltung gestern Abend im Schnee versteckt habe. Aber als ich sie vor zehn Minuten ausbuddeln wollte, war sie weg. Kann sein, dass sie den Bostoner Cops in die Hände gefallen ist. Allerdings scheint die untersuchte und als Tatwaffe identifizierte Pistole eine ganz andere zu sein. Trotzdem wurde ein Haftbefehl gegen mich erlassen. Wie passt das zusammen?»
Der Streifenwagen wurde noch langsamer. Tom setzte wieder den Blinker und bog nach links ab. «Können Sie sich vorstellen, dass Ihnen jemand was unterschieben will?»
«Ich kenne niemanden so gut, dass er Freund oder Feind sein könnte. Das ganze letzte Jahr habe ich mich komplett zurückgezogen und jede Gesellschaft gemieden. Das wird Ihnen vermutlich aufgefallen sein.»
Tom knurrte zustimmend. «Aber jemand scheint zu glauben, Sie seien ein Killer. Oder …» Er korrigierte sich schnell. «… jemand will, dass andere Sie für einen Killer halten. So sieht es doch aus, oder? Nach vorsätzlicher Beweismittelfälschung. Jemand bringt eine Waffe ins Labor, behauptet, es sei Ihre, und nun stellt sich heraus, dass drei Menschen damit getötet wurden.»
«Meine Taurus kann es nicht gewesen sein.» Ich dachte nach. Auf meinem Waffenschein war nur der erlaubte Pistolentyp eingetragen und keine Details zum Kaliber oder zur Ausstattung. «Es ist nicht meine Waffe», wiederholte ich entschieden. «Das kann mein Lehrer J.T. Dillon bezeugen. Er war ein ganzes Jahr lang mit mir am Schießstand und kennt meine Taurus. Er weiß, wie sie aussieht.»
Tom knurrte wieder. «Na schön, damit gäbe es wenigstens einen Zeugen der Verteidigung.»
Was er sagte, tröstete mich wenig. Irgendwann würde man meiner Version vielleicht Glauben schenken und einsehen, dass die als Tatwaffe identifizierte 22er nicht meine war. Aber in der Zwischenzeit wäre der Haftbefehl längst vollstreckt, und ich säße hinter Gittern. Alles Weitere würde sich später ergeben.
Doch es gab kein Später für mich. Heute war D-Day, der 21. Januar. Der Tag, auf den ich ein Jahr lang hin trainiert hatte. Ich sollte meinem Killer begegnen, bewaffnet und zum Kampf bereit. Nun aber war ich nicht nur schutzlos, sondern auch auf der Flucht vor der Polizei.
Wie hatte es dazu kommen können? Wer steckte dahinter?
Langsam, aber sicher schlossen sich die Schaltkreise in meinem Gehirn. «Ein Cop reicht eine Pistole ein, die tatsächlich die Tatwaffe ist. Als solche konnte sie dann identifiziert werden. Ich meine, nicht jeder Hinz und Kunz kann im Labor aufkreuzen und behaupten, hier, das ist Charlene Rosalind Carter Grants Knarre; bitte nehmen Sie folgende Untersuchungen an ihr vor.»
«Bingo.»
«Aber weil dieser Cop vorausdenkt, hat er sich vorher meine Taurus Halbautomatik unter den Nagel gerissen, um zu verhindern, dass ich mit meiner Waffe in die Polizeizentrale spaziere und sage, he, hier muss ein Irrtum vorliegen.»
«Logisch.»
«Ich verstehe es trotzdem nicht», sagte ich und ärgerte mich darüber, wie kläglich meine Stimme klang.
«Wer weiß von Ihrer 22er? Außer mir? Wie steht es um die Kollegen im Revier oder in der Bostoner Zentrale?»
«Ich bin vernommen worden, von Detective D.D. Warren und dieser anderen Frau, von der ich nur weiß, dass sie O genannt wird. Detective Warren hat mir versprochen, im Fall der Morde an meinen Freundinnen zu ermitteln. Sie scheint meine Befürchtungen ernst zu nehmen. Und diese O hat eine Facebook-Seite eingerichtet, um den Killer aus der Reserve zu locken …»
Ich stockte in Erinnerung an die letzte Vernehmung in der Zentrale, als mir Fragen gestellt worden waren, die mit dem Tod meiner Freundinnen herzlich wenig zu tun hatten. Vielmehr hatten sich die beiden
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