Der Tag, an dem du stirbst
Abigail Grant?
Detective Warren sah darin einen weiteren Beweis dafür, dass Abigail lebte und auf rätselhaften Wegen ins Sittendezernat der Bostoner Polizei gefunden hatte. Detective O. Braune Haare, braune Augen – wie das Baby in meinen Träumen.
Allerdings erinnerte ich mich nur an einen Säugling, der höchstens neun Monate alt war. Ich hätte ihn unmöglich mit diesem exotischen, langhaarigen, kurvenreichen Wesen in Verbindung bringen können, mit dieser jungen tüchtigen Polizistin, der schon eine beachtliche Karriere gelungen und die mir offenbar gleich auf den ersten Blick feindlich gesinnt gewesen war.
Irgendwann muss jeder sterben. Sei tapfer.
Ich erinnerte mich an diese Worte. Als ich sie wieder hörte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Sie bewirkten, dass ich unwillkürlich die Schultern straffte und den Kopf hob.
Meine Mutter hatte diesen Spruch gern heruntergebetet. Dass Detective Warren sie zitieren konnte, bewies eindeutig: Abigail lebte.
Aber meine kleine Schwester schien mich zu verachten.
«Den Kühlschrank geplündert?», fragte Tom, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er war seit mindestens achtzehn Stunden auf den Beinen und wirkte entsprechend abgespannt und müde. Mich in seiner Wohnung zu sehen schien ihn ein wenig befangen zu machen.
«Ich habe Ihren O-Saft getrunken», erwiderte ich.
«Noch irgendwas Haltbares zum Essen gefunden?»
«Die Dill-Pickles waren noch ganz gut.»
«Konnten Sie meinen Waffentresor knacken?»
«Wir kennen uns seit zwölf Monaten, aber ich weiß immer noch nicht, wann Sie Geburtstag haben oder wie Ihre Mutter mit Mädchennamen heißt. Ich habe lange probiert, aber die Kombination einfach nicht herausgefunden.»
«Dachte ich mir. Gab’s irgendwelche Anrufe?»
«Ich habe mit Detective D.D. Warren telefoniert. Gute Nachrichten. Sie scheint mir endlich zu glauben.»
«Aber den Haftbefehl gegen Sie hat sie nicht aufgehoben», schränkte Tom ein.
«Vielleicht traut sie mir immer noch nicht über den Weg.» Ich hielt meine Hände unter der Tischkante versteckt. Er sollte nicht sehen, dass sie zitterten. Meine Nerven lagen blank.
Irgendwann muss jeder sterben. Sei tapfer.
«Warum hat es diese andere Frau, Detective O, auf Sie abgesehen?»
«Detective Warren scheint überzeugt davon zu sein, dass sie meine Schwester ist. Dann wäre das Motiv Rache.»
Tom verzog das Gesicht. «Ernsthaft? Auch an Ihnen will sie sich rächen?»
«D.D. glaubt’s jedenfalls.» Ich rückte bis ans Ende der Anrichte zurück, steckte meine rechte Hand in die Hosentasche und kramte darin herum, bis ich fand, wonach ich suchte. «Ich bin anderer Meinung.»
«Sie halten Detective O nicht für Ihre Schwester?»
«Doch, ich bin mir ziemlich sicher, dass D.D. in diesem Punkt recht hat. Aber ich glaube nicht, dass Abigail oder Detective O es auf mein Leben abgesehen hat. Ich war lange Zeit im Irrtum. Ich bin gar nicht das dritte Mordopfer.»
«Gut zu hören.»
«Quincy, der Profiler, hat mir eigentlich schon zu bedenken gegeben, dass aus den beiden Morden an meinen Freundinnen keine logische Reihe wird, die mich zwingend an die dritte Stelle setzt. Meine Rechnung war falsch. Randi und Jackie wurden nicht getötet, weil sie meine besten Freundinnen waren; sie wurden getötet, weil ich sie liebte.»
Tom, der auf der anderen Seite der Anrichte stand, runzelte die Stirn. «Ist das nicht dasselbe?»
«Ja und nein, je nach Blickwinkel. Ich hatte zwei beste Freundinnen. Aber es gibt noch einen dritten Menschen, den ich liebe.»
«Tante Nancy.»
«Richtig. Ich habe sie zweimal in ihrem Hotel anzurufen versucht, aber sie ist nicht zu erreichen. Detective O sollte irgendwann heute mit ihr reden. D.D. Warren hatte ihr den Auftrag dazu erteilt, bevor sie wusste, wer O in Wirklichkeit ist.» Ich wich noch einen weiteren Schritt zur Seite aus und war fast am anderen Ende der Anrichte, von wo ich Tom mit einem Satz erreichen konnte.
Meine Hände zitterten noch mehr. Mir schnürte sich die Kehle zu, doch ich zwang mich zu schlucken und tief Luft zu holen.
Irgendwann muss jeder sterben. Sei tapfer.
Nach all den Jahren suchte mich meine Mutter heim. So fühlte es sich für mich an. Auf eine Weise, die ich noch nicht verstand, hatte sie gewonnen, und ich hatte verloren. Nach zwanzig Jahren ließ sie mich immer noch büßen.
Nur, dass ich kein kleines Mädchen mehr war. Ich würde mich nicht still in mein Schicksal fügen.
Ich hatte meine Lehren gezogen.
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