Der Tag, an dem du stirbst
Spruch ihrer Mutter. Ein Familien-Mantra gewissermaßen. Interessanter finde ich die Botschaft innerhalb der Nachricht, geschrieben mit Zitronensaft. Schnappt mich. Zuerst dachte ich, der Autor dieser Nachricht will uns verhöhnen. Jetzt frage ich mich, ob es nicht doch eher eine Bitte ist. Abigail schrieb: Irgendwann muss jeder sterben. Und Detective O fügte hinzu: Schnappt mich. »
«Good Cop, bad Cop», bemerkte Neil.
«Exakt», erwiderte D.D. und dachte daran, wie oft sie und O allein in diesem Büro gesessen, über den anonymen Nachrichten gebrütet, Handschriften verglichen und Zeugenaussagen diskutiert hatten. Der Kollegin war nie auch nur das Geringste anzumerken gewesen. Wie gut sie sich im Griff hatte, war beängstigend.
Das passte auch zum Ergebnis der Handschriftenanalyse, nach der der Verfasser ein hochgradig pedantischer, rigoristischer Typ-A-Mensch sein musste.
Nachdem sie mit Charlene telefoniert hatte, war D.D. sofort in Os Büro geeilt, um Proben ihrer Handschrift einzusammeln. Die hatte sie zusammen mit den anonymen Nachrichten auf einem freien Tisch ausgebreitet und miteinander verglichen. Auffällige Übereinstimmungen waren ihr allerdings nicht ins Auge gesprungen. Zwar schrieb auch O sauber und präzise, aber ihre Buchstaben waren weniger perfekt proportioniert, und der untere Rand bildete keine absolut gerade Linie. Es konnte aber durchaus sein, dass sie beim Verfassen der Nachrichten ein Lineal zu Hilfe genommen hatte, vielleicht um Verwirrung zu stiften. Aber vielleicht erklärte sich das akkuratere Schriftbild damit, dass die Nachrichten lediglich aus sechs Wörtern bestanden und bis zur Vollendung ausprobiert worden waren.
Trotzdem trat die Persönlichkeit der Verfasserin in den Schriftproben deutlich genug zum Vorschein. Kontrolliert, entschlossen, psychopathisch.
«Die Mutter des Zeugen im Fall Barry hat heute Nachmittag angerufen», berichtete nun D.D. «Sie sagt, ihr Sohn habe erklärt, die Augen der Täterin seien nicht wirklich dämonisch gewesen, sie hätte wahrscheinlich nur blaue Kontaktlinsen getragen. Vor ungefähr einer Stunde waren beide hier bei uns in der Zentrale und haben einen Katalog für Halloween-Kostüme vorgelegt, in dem solche Linsen angeboten werden.»
Sie holte eine aus dem Katalog herausgerissene Seite aus der Tasche und legte sie zwischen Neil und Phil auf den Tisch. «Ich vermute, O hat solche Linsen getragen, um der Beschreibung ihrer Schwester Charlene zu entsprechen: braune Haare, blaue Augen …»
«Aber warum Katzenaugen?», fragte Phil, der sich beim Anblick der Abbildung ein wenig zu winden schien.
«Gruselig, nicht wahr?»
«Allerdings.»
«Aber es ergibt Sinn. O wollte nicht nur ihrer Schwester ähnlicher sehen, sondern sich selbst entstellen. Schließlich musste sie damit rechnen, nur wenig später dem Zeugen persönlich gegenüberzustehen. Ich weiß noch, dass ich, als sie aufkreuzte, glaubte, sie sei von einem Rendezvous gekommen. Tatsächlich aber hat sie sich wohl nur besonders hübsch geschminkt, um von dem Jungen nicht erkannt zu werden. Der hatte nämlich eine dünne Frau mit hagerem Gesicht und straff zusammengefassten Haaren beschrieben. Uns hat sich O immer ganz anders gezeigt.»
«Aber als ausgemergelt kann man sie nicht gerade bezeichnen», meinte Neil.
«Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich aufpolstert.» D.D. blickte auf ihre Brüste, die während der Schwangerschaft noch ganz anders ausgesehen hatten. «Glaubt mir, davon verstehe ich was.»
Neil errötete leicht und schüttelte seinen roten Schopf. «Na schön, nehmen wir also an, O ließ sich vor zwei Jahren hierher versetzen, um Charlene zu töten. Aber Charlie kam erst vor einem Jahr nach Cambridge. Das konnte O doch unmöglich vorhergesehen haben.»
«Natürlich nicht, das war auch nicht nötig. Boston liegt mitten in New England. Von hier sind rund ein Dutzend anderer Staaten in nur wenigen Stunden erreichbar, nicht zuletzt New Hampshire und Rhode Island. Mit dem Flieger ist es auch nicht allzu weit nach Atlanta, wo Jackie Knowles wohnt. Mit anderen Worten, egal, wo sich Charlie oder ihre beiden anderen Opfer am 21. Januar aufhalten würden – O hätte leichten Zugriff auf sie.»
«Ich habe mich mit ihrem Vorgesetzten unterhalten», sagte Phil. «Detective O hatte am 21. Januar vergangenen Jahres und auch im Jahr davor frei. Heute hätte sie zwar theoretisch Dienst, aber wir sehen ja, was das bedeutet …»
D.D. nickte und machte sich eine Notiz mit
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