Der Tag, an dem du stirbst
abdriftete. Ganz wie im richtigen Baseballspiel kam alles auf ein scharfes Auge und genaues Timing an.
Erster Pitch. Jesse drückte zu früh. Strike.
Zweiter Pitch. Der Ball ging vorbei, und Jesse hatte bereits geklickt. Strike Nummer zwei.
Über Helmet Hippos Kopf öffnete sich ein Dialogfeld. Die Spieler konnten nicht schreiben, was sie wollten – das erlaubte die Website nicht. Dass sie solche Kontrollen eingebaut hatte, gefiel seiner Mutter. Man konnte nur aus einer Liste von Wortbausteinen auswählen, Begriffen aus dem Sport und gängigen Formulierungen. Beschimpfungen waren nicht möglich. Das wusste Jesse von seiner Mutter. Er konnte sich ohnehin nicht vorstellen, wie es möglich sein sollte, mit den angebotenen Phrasen wie Strengt euch an, Jungs jemanden zu beschimpfen. Aber vielleicht gab es Wege daran vorbei. Die anderen, erfahrenen Mitspieler wussten vielleicht Bescheid. Jesse dagegen musste noch richtig schreiben lernen. Er war schon froh, wenn er für seinen Bären passende Wortbausteine fand und sie per Mausklick darstellen konnte.
«Augen auf den Ball», sagte Helmet Hippo. «Du schaffst es. Ich weiß, du schaffst es.»
Jesse holte tief Luft. Es musste gelingen. Für sein Team. Für Helmet Hippo.
Der Ball kam angeflogen, ein winziger schwarzer Fleck auf dem Bildschirm, zuerst langsam, dann ganz schnell und immer schneller.
Jesse klickte. Auf dem Bildschirm schwang sein Bär den Schläger. In den Lautsprechern machte es Klack!, und plötzlich setzte sich der schwarze Fleck wieder in Bewegung, in eine andere Richtung diesmal, über Helmet Hippo hinweg in Richtung Outfield. Er flog und flog …
Auf dem Bildschirm leuchtete das Wort «GONE» auf. Es regnete virtuelles Konfetti. Eine Fanfare schmetterte. Homerun. Jesse hatte es geschafft. Homerun!
Nach der graphischen Explosion zeigte sich wieder das Spielfeld. Jesse konnte seinen Bären und Helmet Hippo von Base zu Base rennen sehen. Sie punkteten und gingen acht zu sieben in Führung.
«Jesse, noch fünf Minuten», rief seine Mutter aus der Küche.
«Okay!»
Jesse starrte unverwandt auf den Schirm. Er klammerte sich mit der linken Hand an seinen Zombie-Bear. Alle Teamgefährten redeten durcheinander und gratulierten ihm mit ihren Sprechblasen.
Aber Jesse hatte nur einen von ihnen im Auge: Helmet Hippo.
«Gut gemacht! Du bist ein Champion!»
Jesse lächelte immer noch, ja, er strahlte übers ganze Gesicht, als am unteren Rand des Bildschirms ein neues Icon aufleuchtete. Die Mailbox. Sein Bär hatte eine Nachricht erhalten!
Jesse klickte das Icon an. Normalerweise kamen Mails von der Website: Hinweise auf Bonuspunkte, Geschenke, wenn Zombie-Bear Geburtstag hatte, oder Werbung für wöchentliche Specials – Spiel dieses Spiel, verdiene so und so viele Bonuspunkte!
Aber die Nachricht war nicht vom Administrator der Website. Sie war von Helmet Hippo persönlich. Die Spieler konnten einander Mails schicken. Das hatte Jesse bislang nicht gewusst, jetzt wusste er es.
«Glückwunsch zu deinem Siegesschlag. Ich wusste, dass du es schaffst. Willst du wieder einmal spielen? Morgen, um 13:30 Uhr bin ich wieder hier. Ich trage immer meine Red-Sox-Kappe; sie bringt mir Glück. Und du?»
Es gab einen Antwort-Button.
Jesse klickte ihn an und sah, wie sich ein neues Fenster öffnete. Darin erschien Helmet Hippos Name, sonst nichts. Keine Satzbausteine, aus denen er hätte auswählen können. Er musste ohne Hilfe auskommen, selbst etwas tippen. Aber vielleicht konnte er ein bisschen pfuschen und ein paar Worte aus der Nachricht abschreiben.
Jesses Mutter kramte in der Küche.
Mit ausgestreckter Zunge mühte sich Jesse an den Tasten. «Ja. Ich bin hier. Ich bin auch ein Fan von den Red Sox.»
Später – nach dem Essen, nach den Hausaufgaben, nach dem Bad und der Gutenachtgeschichte –, als er unter seiner Star-Wars-Bettdecke lag und Zombie-Bear im Arm hielt, ging ihm noch einmal der tolle Homerun-Schlag durch den Kopf. Er dachte an Helmet Hippo.
Und ihm war wohlig warm. Er fühlte sich als etwas Besonderes.
Morgen um 13:30 Uhr. Jesse konnte es kaum abwarten.
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5. Kapitel
«Dieser Hund, der nicht Ihr Hund ist, wartet draußen auf der Eingangsveranda», rief meine Vermieterin durch die geschlossene Zimmertür. Es war neun Uhr am Abend, Zeit, mich für die Arbeit fertig zu machen.
Mein Schlafzimmer lag im Parterre eines hundertzwanzig Jahre alten, dreigeschossigen Hauses, was mich anfangs gestört hatte. Ich wäre
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