Der Tag, an dem du stirbst
so nicht», sagte ich, worauf sie aufstand und mit dem Schwanz wedelte. «Im Januar sollte ein Bostoner Hund ein Zuhause haben.»
Tulip schaute mich an und winselte ein wenig.
Weil sie so dünn war, hatte ich vor fünf Monaten damit begonnen, Hundefutter zu kaufen. Zwei Wochen später war ich zum ersten Mal mit ihr beim Tierarzt. Flöhe, Zecken oder Würmer hatte sie nicht. Der Tierarzt gab ihr ein paar Spritzen, mir eine Packung Frontline und schrieb dann eine Rechnung, die meine 22er Halbautomatik vergleichsweise billig aussehen ließ.
Ich zahlte. Machte Überstunden. Joggte mit einem Hund, der mir nicht gehörte. Und gab ihm Futter.
Als Frances meinte, dass Tulip draußen auf mich wartete, hatte ich eine Tüte Trockenfutter eingesteckt, die ich nun auf der Veranda ausschüttete. Die Hündin machte sich dankbar darüber her. Es schien, als hätte sie noch mehr abgenommen. Am Hinterteil fiel mir eine frische Wunde auf; auch am rechten Ohr war ein Kratzer zu sehen.
Im Herbst hatte ich Zettel aufgehängt in der Hoffnung, dass sich ihr Herrchen meldete. Ich gab sogar Geld aus für eine Anzeige in der Zeitung. Als ich einmal im Tierheim anrief und mir plötzlich eine Unmenge Fragen gestellt wurde, geriet ich in Panik. Ich hatte schließlich nur wissen wollen, ob Tulip ein Zuhause hatte, eine Familie, die sie liebte und vermisste. So etwas konnte ich mitfühlen.
Jedenfalls wollte ich nicht, dass man sie fortschaffte und umbrachte, denn irgendwann in ihrer jüngeren Geschichte hatte sie sich zu einem eigenständigen Lebewesen gemausert, das niemandes Besitz war.
«Du brauchst einen Mantel», murmelte ich und knetete ihre dicken Hautfalten am Hals. Als sie sich an meine Beine lehnte, spürte ich, dass sie immer noch zitterte. Minus sieben mit fallender Tendenz. Sie mit ins Haus zu nehmen kam nicht in Frage. Meine Vermieterin hätte uns beide kurzerhand vor die Tür gesetzt. Aber draußen in der Kälte lassen mochte ich sie auch nicht.
Ich schaute nach, wie viel Geld ich noch im Portemonnaie hatte. Es reichte.
Dann blickte ich wieder auf den Hund, der mir nicht gehörte und immer noch an meinen Beinen lehnte, die Augen geschlossen, sichtlich erschöpft und irgendwie sorgenvoll.
«Was wir jetzt tun, muss unser Geheimnis bleiben», sagte ich ernst.
Ich winkte ein Taxi herbei und fuhr mit ihr zur Arbeit.
«Neun-eins-eins. Was ist der Grund Ihres Anrufs?»
Keine Antwort.
Ich blickte auf den ANI/ALI-Monitor, der die Nummer des Anrufs ortete, und wiederholte, auf meinem Drehsessel leicht hin und her schwingend: «Neun-eins-eins. Was ist der Grund Ihres Anrufs?»
«Ich hab einen dicken Hintern», ließ eine Männerstimme verlauten.
Ich seufzte. Nicht dass mir solche Mätzchen fremd gewesen wären. «Verstehe. Und dieser vergrößerte Gesäßmuskel residiert in der West Carrington Street Nummer fünfundneunzig?»
«He, Alte!», knarzte die Stimme. Im Hintergrund Gelächter, eigentlich nur ein Kichern. Ein während der Nachtschicht nicht seltenes Hintergrundgeräusch.
Ganz professionell fuhr ich fort: «Gehe ich richtig in der Annahme, dass dieses Gesäß einem gewissen Mr. Edward Keicht gehört?»
«Eh, woher wissen Sie das?»
«Sir, wussten Sie nicht, dass Ihr Name und Ihre Adresse automatisch auf unseren Monitoren erscheinen, wenn Sie uns von Ihrem Festnetzanschluss anrufen?»
Am anderen Ende der Leitung blieb es für eine Weile still. «Oh, Mann.» Mr. Keicht hatte an diesem Abend offenbar mehr zu sich genommen als bloß Bier.
«Ist Ihnen bewusst, dass solche Scherzanrufe eine strafbare Handlung sind, die mit Gefängnishaft geahndet werden kann?»
«Cool!»
«Seien Sie nett zu dem freundlichen Polizisten, der gleich vor Ihrer Haustür steht, Mr. Keicht.»
«Schon gut.»
«Und denken Sie dran, was Sie da mit Drogen volldröhnen, ist Ihr Gehirn.»
Ich unterbrach die Verbindung und meldete den Zwischenfall einem meiner Vorgesetzten. Auf alle bei uns eingehenden Anrufe musste eine offizielle Reaktion erfolgen. Und weil hier ein Straftatbestand vorlag, würde Mr. Ich-hab-einen-dicken-Hintern in spätestens fünf Minuten das Lachen vergangen sein.
1:20 Uhr. Meine beiden Monitore blieben leer, die Telefonleitungen stumm. Nicht schlecht, aber es war ja auch erst Mittwoch. Erfahrungsgemäß nahm die Zahl der Notrufe zum Wochenende hin zu. Freitags und samstags war bei uns Hochbetrieb; dann überstürzten sich die Meldungen häuslicher Gewalt, von Ruhestörung und Vergehen unter Einfluss von Alkohol. Am
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