Der Tag, an dem du stirbst
Flur. «Nicht so laut. Ich telefoniere.»
Jesse sagte nichts; er wusste, dass seine Mutter keine Antwort von ihm erwartete. Sein polternder Auftritt und ihre Reaktion gehörten zum Ritual seiner Rückkehr von der Schule wie der Griff nach den Twinkies, die er in sich hineinstopfte.
Jesses Mutter arbeitete am Telefon. Sie verkaufte Sachen. Es sei ein Glück, dass sie diesen Job habe, das hatte sie ihm schon tausendmal gesagt. Ein Glück, zu Hause arbeiten zu können; so bleibe ihm die lieblose Versorgung nach der Schule erspart, mit der sich andere Kinder begnügen müssten, die mit Haferflocken abgespeist würden, und nicht einmal mit den weichen, sondern den kernigen, die jedes vernünftige Kind verachtete; und dann kauften die Eltern immer nur die billigen in der Familienpackung.
Jesse kletterte auf die Anrichte, öffnete den Hängeschrank und griff nach einer blauen Plastiktasse. Damit sprang er auf den Boden zurück, was wieder herrlich laut polterte. Diesmal polterte es sogar auch von unten.
Mrs. Flowers, die uralte Lady, die eine Etage tiefer wohnte, mochte es nicht, wenn Jesse durch die Wohnung sprang. «Es hört sich an, als zögen Sie einen Elefanten groß», hatte sie sich schon unzählige Male bei seiner Mutter beschwert. «Ach, Jungs sind nun einmal so», sagte seine Ma dann immer und warf ihrem Sohn einen Blick zu, der ihn wissen ließ: Du benimmst dich jetzt, sonst –
Jesse seufzte. Er schlich auf den Kühlschrank zu und riss die Tür auf. So war es abgemacht: Er durfte Twinkies essen, aber nur, wenn er auch ein Glas Milch dazu trank.
Damit war er einverstanden. Er schüttete sich ein Glas Milch ein und lutschte die cremige Füllung aus seinen Twinkies.
Der erste Akt des mittäglichen Rituals war damit abgeschlossen. Er ging jetzt ins Wohnzimmer. Nach der Schule fernsehen oder an der Spielekonsole spielen durfte er nicht. Die Glotze mache dumm, meinte seine Mutter, und Jesse müsse seinen Kopf gebrauchen, wenn er später einmal ein besseres Leben führen wollte. Außerdem seien TV und Videospiele laut, was sie bei ihrer Arbeit störe.
Aber er durfte an den Laptop, der auf dem Esstisch im Wohnzimmer stand. An den Tisch passten vier Personen, aber weil er und seine Mutter allein lebten, blieben zwei Plätze frei. Einen davon nahm der Laptop in Anspruch. An dem anderen legte er seine Schulsachen ab, auf die seine Mutter nach dem Abendessen einen Blick werfen würde.
Sie beide machten hier ihre Hausaufgaben, denn auch sie ging zur Schule. Um sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Ein Jahr noch, dann würde sie einen besseren Job haben, versprach sie. Einen besser bezahlten, der außerdem einige zusätzliche Vorteile mit sich brachte. Vielleicht würden sie in eine schönere Wohnung umziehen, in ein Viertel mit Spielplatz, wo Jungs herumspringen und Jungs sein könnten, ohne dass eine alte Mrs. Flowers mit dem Besenstiel gegen die Decke klopfte.
Jesse setzte sich. Er bootete den Laptop, ein altes Gerät, das seine Mutter von ihrem letzten Freund geschenkt bekommen hatte. Ein ganz netter Typ übrigens, der ebenfalls Fan der Red Sox war und manchmal mit ihm im Park als Catcher gespielt hatte. Von ihm war auch Jesses erster Teddybär, mit Ball und Schläger zwischen den Tatzen, den er auf der Website von AthleteAnimalz hatte eintragen lassen – unter dem Namen Homerun-Bear. Jesse wollte auch einmal Baseballspieler werden.
Seine Mutter war mit diesem Typen ziemlich genau ein Jahr zusammen gewesen. Dann hatte er anscheinend jemand anders gefunden. Seine Mutter hatte geweint, und bei Jesse war Mitchell unten durch. Er hasste ihn regelrecht. Eines Abends hatte er Homerun-Bear mit einer Schere bearbeitet und nach allen Regeln der Kunst zerfetzt. Was ihm am nächsten Morgen leidtat. Der Bär konnte schließlich nichts dafür. Und Jesse hatte so wenig Spielzeug, dass er sich «schlechte Haushaltung», wie sich seine Mutter ausdrückte, eigentlich nicht leisten konnte.
Jesse hatte seinem Teddy die abgeschnittenen Gliedmaßen wieder angeflickt, so gut er konnte, auch den Schläger, den Ball und die Ohren. Homerun-Bear sah am Ende ziemlich cool aus, wie er fand. Er nannte ihn jetzt Zombie-Bear. Sein von den Toten auferstandener Schlagmann.
Zombie-Bear hockte jetzt neben dem Laptop und wartete darauf, dass sich Jesse ein neues Abenteuer einfallen ließ. Unter seinem starren Blick rief Jesse die Website von AthleteAnimalz auf.
Jesse durfte nur drei Websites besuchen. Seine Mutter hatte sie genau
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