Der Tag, an dem du stirbst
zweitschlimmsten war es sonntags nach siebzehn Uhr, während der sogenannten Hexenstunde. Zu dieser Zeit mussten nicht-fürsorgeberechtigte Elternteile ihre zwei-Komma-zwei Kinder dem fürsorgeberechtigten Expartner zurückbringen. Schon die Stimmlautstärke der Anrufenden ließ darauf schließen, dass sich zerstrittene Eltern lieber gegenseitig in die Pfanne hauten als ihrer Verantwortung für die Sprösslinge nachzukommen. Pünktlich um 17:01 Uhr kam der erste Anruf, und die Dialoge waren immer ähnlich: «Nein, Ma’am, Sie dürfen ihm nicht in die Eier treten, wenn er sich um zwei Minuten verspätet», gefolgt von der Entgegnung: «Aber das Gericht hat die Besuchszeiten klipp und klar geregelt. Ich hab’s schriftlich.»
Um die Sonntage versuchte ich mich zu drücken. Solche Streitereien gingen allen auf die Nerven – den Anrufenden, meinen Vorgesetzten und mir.
Im großen Ganzen aber war Grovesnor mit seinen fünfundzwanzigtausend Einwohnern geradezu zahm, verglichen mit meiner Zeit in Arvada. Dort hatte ich in einem größeren Callcenter gearbeitet und Hunderte von Anrufen pro Stunde entgegennehmen müssen. Jetzt saß ich in einem abgedunkelten Raum, allein mit einem Hund, der mir nicht gehörte, und antwortete auf zehn bis vierzig Anrufe pro Schicht. Zehn in einer Nacht wie der heutigen, vierzig am Wochenende.
Mindestens ein Anruf kam von jemandem, der sich verwählt hatte. Ein dicker Hintern oder Spaßvögel, die bei uns eine Pizza oder was auch immer bestellen wollten, meldeten sich mit Sicherheit ebenfalls. Zu denen schickte ich dann einen uniformierten Beamten. Tut mir leid, ich habe die Regeln nicht gemacht.
Ungefähr jeder dritte Anrufer hatte tatsächlich ein ernsthafteres Anliegen, sei es wegen einer Verkehrswidrigkeit, eines toten oder verletzten Tiers auf der Straße oder wegen ruhestörender Nachbarn. Auf meinem ANI/ALI-Schirm standen alle nötigen Informationen: die Nummer des Anrufers sowie dessen Name und Adresse, vorausgesetzt, man versuchte, uns über das Festnetz zu erreichen. Anrufe von Mobiltelefonen oder Computern wurden zur Feststellung der Herkunft automatisch an die State Police weitergeleitet, denn wir konnten nicht erkennen, woher sie kamen, geschweige denn einen Beamten dorthin schicken.
Neben meinem ANI/ALI-Monitor hatte ich noch ein zweites System, die sogenannte Dispatcher-Ereignismaske. In die schrieb ich alle mir durchgegebenen Informationen – Unfalldetails, Täterbeschreibungen und dergleichen. Diese Informationen gingen von hier sofort an den mobilen Computer eines Beamten in dessen Streifenwagen. Per Mausklick waren wir gewissermaßen alle auf derselben virtuellen Seite.
Vorausgesetzt, das System stürzte nicht ab. Vorausgesetzt, mir gelang es, meine beiden Monitore im Auge zu behalten und gleichzeitig einen aufgeregten Anrufer zu beruhigen, ihm sachbezogene Fragen zu stellen und alle wichtigen Antworten einzutippen.
Ansonsten war alles ein Kinderspiel.
Mein ANI/ALI-Monitor erwachte zum Leben. Name, Telefonnummer und Adresse erschienen auf dem Schirm. Ich setzte mein Headset auf und drückte die Annahmetaste.
«Neun-eins-eins. Was ist der Grund Ihres Anrufs?»
«Ich … ich weiß nicht.» Eine Frauenstimme diesmal. Bebend.
«Ma’am? Brauchen Sie Hilfe?»
«Mein Mann ist wütend.»
«Verstehe. Sind Sie zu Hause, Ma’am?» Ich las die Adresse von meinem Schirm ab. Sie bestätigte mir, dass sie dort wohnte. «Und wie ist Ihr Name, Ma’am?»
«Dawn.» Einen Nachnamen nannte sie nicht. Laut Auskunft meines Monitors gehörte die Telefonnummer einem gewissen Vincent Heinen. Ich wollte fürs Erste nicht weiter in sie dringen.
«Dawn, gut, dass Sie anrufen. Ich heiße Charlie. Ist Ihr Mann zu Hause?»
«Ja.» Sie flüsterte nur noch. Vermutlich war er in der Nähe.
«Haben Sie Kinder, die bei Ihnen wohnen?»
«Nein.»
«Haustiere? Einen Hund vielleicht?» Über die Haltung von Hunden wollten unsere Beamten gern im Voraus informiert werden.
«Nein.»
Ich ging aufs Ganze. «Hat er getrunken?»
«Ja», antwortete sie fast sanft.
«Dawn, ist er mit Ihnen im Zimmer?» Als sie nicht antwortete, senkte auch ich meine Stimme: «Halten Sie sich vor ihm versteckt? Drücken Sie zur Antwort auf eine Taste Ihres Telefons. Einmal bedeutet ja, zweimal nein.»
Ich hörte nur einen Piepton und hielt die Luft an. Es handelte sich also um einen ernstzunehmenden Anruf. Tulip, die vor meinen Füßen lag, rührte sich. Sie schien zu spüren, dass ich nervös wurde, und stand
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