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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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noch sechzig Stunden im Wachzustand.
    Tom stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf mich zu. Er hielt Tulip eine Hand hin.
    «Hat er einen Namen?»
    «Ihr Name ist Tulip.»
    «Bringen Sie sie häufiger mit?»
    «Es ist zu kalt, um sie draußen zu lassen», sagte ich, als wäre damit alles erklärt.
    Er nickte, schien sich also mit meiner Antwort zufriedenzugeben. Ich wischte die Anrichte mit einem Clorox-Tuch ab und begann anschließend, die verhunzte Edelstahlspüle mit einem Scheuerschwamm zu bearbeiten. Vor neun Monaten hatte ich damit angefangen, neue Reinigungsmittel für unseren kleinen Aufenthaltsraum zu besorgen. Irgendjemand musste es ja tun.
    Officer Mackereth kraulte Tulip hinter den Ohren und beäugte mich. Ich wich seinem Blick aus. Ich scheuerte die Spüle, die voller Kaffee- und Wasserflecken war. So etwas machte mich verrückt.
    «Schwieriger Anruf vorhin, was?», meinte er plötzlich.
    Ich hielt kurz inne und machte mich dann über einen Rostfleck her, der nicht weggehen wollte.
    «Tut mir leid, dass ich mit den Details so langsam war», erwiderte ich. «Die Anruferin hatte sich vor ihrem Ehemann versteckt und konnte nicht reden.»
    «Wie sind Sie dann an die Informationen herangekommen?»
    «Über Tastentöne.»
    «Wie bitte?»
    Die Spüle war jetzt sauber. Ich warf ihm einen Blick zu und drehte den Wasserhahn auf, um den Schwamm auszuwaschen. Officer Mackereth war schätzungsweise Mitte dreißig; er hatte blaue Augen und kurzgeschnittene braune Haare. Ein bisschen untersetzt war er, was ihm aber ganz gut stand. Es verlieh ihm jene Aura, die Ganoven gar nicht erst auf den Gedanken brachte, sich mit ihm anzulegen.
    Es war mir unangenehm, dass er so dicht vor mir stand. Ich mochte es nicht, dass er mich aus seinen Cop-Augen musterte, die darauf trainiert waren, Geheimnisse zu lüften und Lügen zu durchschauen.
    Er hatte mich nach meiner Schicht noch nie aufgesucht. Das hatten die wenigsten Uniformierten. Wir arbeiteten zwar eng zusammen, aber weil das Personal der Leitstelle ständig wechselte – viele warfen mit Burnout-Symptomen das Handtuch –, ließen sich die meisten Officer Zeit mit dem Versuch einer persönlichen Kontaktaufnahme. Auch was mich betraf, warteten sie wohl mein Einjähriges ab, um zu sehen, ob ich noch auf meinem Posten sein würde.
    Ich war so etwas wie ein Statist in einem Kriegsfilm. Der Neuling, dessen Name man sich nicht zu merken brauchte.
    Aber Officer Mackereth war gekommen und schenkte mir seine Aufmerksamkeit. Nach der Dramaturgie alter Kriegsfilme hatte er mich somit dazu verdammt, in Szene Zwei das Zeitliche zu segnen.
    Der Gedanke ließ mich grinsen. Fast hätte ich gelacht, obwohl mir eigentlich zum Heulen zumute war.
    Wie gesagt, ich war erschöpft und aufgedreht zugleich. Eine gefährliche Kombination, vor allem für jemanden, dem nur noch vierundachtzig Stunden blieben.
    «Was meinen Sie mit Tastentönen?», wollte Officer Mackereth wissen.
    Ich packte die Clorox-Tücher weg und griff nach meiner Umhängetasche. «Ich habe Fragen gestellt und die Anruferin aufgefordert, mit Tastentönen zu antworten: ein Piep für ja, zwei für nein. Es hat funktioniert.»
    Ich streifte die schwarze Umhängetasche, in der meine geladene Taurus steckte, über die Schulter und zog die Hundeleine daraus hervor.
    Officer Mackereth legte mir eine Hand auf den Arm.
    Ich wurde stocksteif. Vielleicht schnappte ich auch nach Luft. Mir war nicht klar, was ich davon halten und wie ich darauf reagieren sollte. Seit einem Jahr trainierte ich zuzuschlagen, nachzutreten und mich zu verteidigen. Ich hätte die Fäuste vors Gesicht heben und mich in Boxposition bringen können. Machen Sie ein Foto , brüllte mein Coach immer. Ich hätte mich auf einen Jab mit der Führhand vorbereiten sollen, gefolgt von einem Punch, einem linken Haken und einem Uppercut.
    Seit einem Jahr hatte mich niemand berührt, jedenfalls nicht bewusst oder freundlich, geschweige denn liebevoll.
    Plötzlich drohte mich das Vakuum meiner Isolation aufzusaugen. Isolation, Erschöpfung, Adrenalin.
    Ich wollte lachen. Ich wollte weinen.
    Am liebsten hätte ich mich Mackereth in die Arme geworfen, um wieder einmal zu spüren, wie es ist, gehalten zu werden.
    «Lernt man das in der Ausbildung?», fragte er.
    «Nein.»
    «Woher wussten Sie, dass er bewaffnet war?»
    Seine Hand lag immer noch auf meinem Arm, die blauen Augen waren auf mein Gesicht gerichtet. Ich hob das Kinn und setzte eine neutrale Miene auf. «Ich wusste es

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