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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Krankenhaus ließ mich Tante Nancy wissen, dass sie fort sei. Ich kam nie mehr darauf zu sprechen. Sie zu erwähnen hätte böse Geister heraufbeschworen. Darum fragte ich nie nach, und Tante Nancy schwieg sich aus.
    Irgendetwas Schlimmes war passiert. Etwas unfassbar Schlimmes. Und ich wusste Bescheid. Tief im Inneren erinnerte ich mich an alles . Aber ich wollte mich nicht einmal an diese Erinnerung erinnern. Also tat ich es auch nicht. Bewusst oder unbewusst packte ich die Vergangenheit in eine Kiste und versteckte sie auf Nimmerwiedersehen.
    Vielleicht war das nicht die beste Art der Bewältigung. Denn sie musste Folgen haben. Weggesperrte Gedanken entziehen sich nämlich der Kontrolle, und das Gedächtnis leidet insgesamt. Zeitabläufe gerieten durcheinander, mir fehlten Tage, ja Wochen. Ich konnte mich an Gespräche mit meinen besten Freundinnen nicht mehr erinnern und vergaß vor dem Abschlussexamen den Stoff der letzten entscheidenden Unterrichtsstunde.
    Jackie und Randi machten sich über mich lustig und meinten, wenn mir der Kopf nicht angewachsen wäre, würde ich auch den noch irgendwo liegen lassen. Ich lachte mit ihnen, fühlte mich aber nicht wohl dabei. Konnte es tatsächlich sein, dass ich am Vortag zwei Stunden mit Jackie telefoniert hatte und davon nichts mehr wusste? Dass ich komplett vergessen hatte, was mir Randi über ihr erstes Rendezvous mit Tom Eastman, dem Schwarm aller Mädchen, erzählt hatte?
    Kleine Störungen in der Software, hatte ich mir einzureden versucht. Kein Wunder in Anbetracht der Anstrengungen, die es mich gekostet hatte, acht Jahre meines Lebens zu löschen. Außerdem waren mir Gedächtnislücken und ein paar wirre Gedanken sehr viel lieber als gewisse Erinnerungen.
    Solche Erinnerungen kamen manchmal hoch, wenn ich voller Angst und Beklemmungen war. Wie Schnipsel einer alten Filmrolle flackerte dann die Vergangenheit in meinen Träumen auf: Bilder meiner abgemagerten, verrückten Mutter in einer schäbigen, verwahrlosten Wohnung zusammen mit der dünnen, einsamen Tochter, der sie Glasscherben zu essen gab, deren Finger sie in Schubladen quetschte und die sie die Treppe hinunterstieß, weil kleine Mädchen tapfer und stark sein mussten.
    Bis eines Tages das kleine Mädchen so tapfer war und so stark, dass es den Krieg für sich entschied.
    Meine Mutter hatte etwas getan. Aber ich hatte den Krieg gewonnen.
    Und ich fragte nicht mehr nach meiner Mutter. Denn tief im Inneren ahnte ich, dass ich immer noch nicht auf das vorbereitet war, was ich auf meine Fragen zu hören bekäme.
    Das Baby weint.
    Kleines Mädchen. Ein Teddybär. Weiße Halskrause, rosa gepunktet. Aus Kettchen und Ringen und zierlichen Dingen …
    Nicht erinnern. Ausblenden. Beiseitedrängen. Aus der Vergangenheit kommt nichts Gutes, schon gar nicht aus meiner. Und überhaupt, was würde es zum jetzigen Zeitpunkt bringen?
    Eine gejagte Frau geht nicht in Deckung. Eine gejagte Frau muss kämpfen können.
    Abrupt stand ich auf, schaute im dunklen Zimmer nach der Uhr und rechnete die verbleibende Zeit bis zum 21. Januar 20:00 Uhr aus. Bis zur Nullstunde, da mein Mörder schließlich kommen würde.
    Noch achtundsiebzig Stunden.
    Ich zog meinen Trainingsanzug an, schnappte mir Tulips Halsband und ging laufen.

    Mein Vater wohnt in Boston. Bei dem einzigen Streit, den ich mit Tante Nancy jemals hatte, ging es um ihn. Ein weiteres Thema, das kaum zur Sprache kam und mich immer weniger beschäftigte. Ja doch, ich habe einen Vater. Er hat viel Geld und war, als ich das letzte Mal von ihm hörte, zum fünften oder sechsten Mal verheiratet. Ich habe auch Geschwister, genauer gesagt, Halbgeschwister. Allerdings habe ich noch keines von ihnen kennengelernt, und ich kann mir kaum vorstellen, dass sich unser gemeinsamer Vater ihnen mehr widmet als mir.
    Für ihn endet die Verantwortung als Vater mit der Samenspende. Er lernt eine Frau kennen und legt sie flach. Ist sie jung genug und hübsch genug, heiratet er sie vielleicht. Aber was soll er machen? Schließlich ist er ein Kerl. Wenn ihm eine neue junge, hübsche Frau über den Weg läuft, lässt er sich wieder scheiden. Er kann gar nicht anders.
    Ich vermute, er hat meine Mutter kennengelernt, als er im Mount-Washington-Hotel von Bretton Woods Urlaub machte. Sie war siebzehn und arbeitete als Haushälterin. Er war dreißig und suchte Abwechslung. Laut Tante Nancy teilte ihm meine Mutter später mit, dass sie schwanger sei. Statt sie zu heiraten, schickte er ihr Geld.

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