Der Tag, an dem du stirbst
Gäste aus Boston aber vergessen hat, Mützen, Schals und Handschuhe einzupacken, und anderen die Schuld daran gibt.
An meine Tante dachte ich auch jetzt, als Tulip und ich an der Kreuzung vor einer roten Ampel anhielten und, als sie auf Grün sprang, über den Zebrastreifen joggten. Ich dachte, dass ich ihr am 21. Januar einen weiteren Unglücksanruf ersparen sollte.
Nach den sechs Meilen, die wir zurückgelegt hatten, war mein Puls auf hundertachtzig, der Schweiß rann mir übers Gesicht. In meiner Hüfttasche steckte griffbereit die Pistole, und ich war froh, dass mich meine Tante jetzt nicht sehen konnte.
Denn sie hätte auf den ersten Blick erkannt, dass, selbst wenn ich die Schlacht gewinnen würde, der Krieg für mich verloren war: Ich sah meiner Mutter zum Verwechseln ähnlich, bis hin zu den dunkel unterlaufenen Augen, den hohlen Wangen und den harten Gesichtszügen.
Die Berge hatten mich verlassen. Meine Tante hatte mich verlassen. In meiner Isolation und vor lauter Verfolgungsangst in dieser großen Stadt hatte ich mir alles zu eigen gemacht, wovon ich wusste, dass es letztlich schadet.
Ich war wieder die Tochter meiner Mutter.
Nur dass ich keine Glasscherben mehr schluckte.
Ich trug eine 22er Halbautomatik bei mir. Und noch an diesem Abend, irgendwann nach sieben, würde ich wieder einmal beweisen, dass ich damit umgehen konnte.
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10. Kapitel
Hallo. Mein Name ist Abigail.
Kennen wir uns?
Keine Sorge, wir werden uns noch kennenlernen.
Hallo. Mein Name ist Abigail.
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11. Kapitel
Detective Sergeant Roan Griffin von der Rhode Island State Police hatte die Stimme eines Bären und die Gestalt eines Hünen. Ein riesiger Kerl, der wahrscheinlich auf der Hantelbank Kleinwagen stemmte, wenn er nicht gerade Sumo-Ringer auf die Matte schickte oder Linebackers in die Kniekehlen sprang. Gut sah er auch noch aus. Das Providence Journal hatte ihn Officer Blueeye genannt, nachdem er bei Dave Letterman aufgetreten war, als Dressman für die neue, preisgekrönte Uniform der State Police.
Tatsächlich stand die Rhode Island State Police in dem Ruf, die bestaussehenden Cops New Englands in ihren Reihen zu haben. Kein Mensch wusste, wie ihr das gelang. Vielleicht beauftragte sie eine Spezialwerkstatt, die breitschultrige und fassleibige Männer mit kantigem Kinn aus Felsblöcken herausmeißelte. Wie dem auch sei, sooft ein Trainingsprogramm mit den Kollegen von Rhode Island angeboten wurde, hatten die weiblichen Cops von Massachusetts – und zwar alle drei – nichts Eiligeres zu tun, als sich dafür einzutragen.
D.D. hatte diesen Griffin gerade an der Strippe. Eine Schande eigentlich, denn seine Zentrale war nur eine Autostunde entfernt, und in Providence gab es eine Menge nette Restaurants … D.D. seufzte bei dem Gedanken, dass ihr kleine Ausflüge dieser Art und nicht zuletzt die italienische Küche spürbar fehlten. So viel zu ihrem neuen Lebensstil.
Griffin war verheiratet. Genau genommen zum zweiten Mal, denn seine erste Frau war an Krebs gestorben. Seine zweite hieß Jillian und arbeitete in der Werbebranche. D.D. kannte sie nur aus Zeitungsberichten. Jillian hatte vor acht Jahren eine Begegnung mit dem berüchtigten College-Hill-Vergewaltiger überlebt. Ihre jüngere Schwester hatte nicht so viel Glück gehabt. Nach der Festnahme eines dringend Tatverdächtigen hatte Jillian eine Selbsthilfegruppe mit dem Namen Survivors Club gegründet, deren Mitglieder sich während der Gerichtsverhandlung gegenseitig unterstützen wollten. Doch zu einer Gerichtsverhandlung kam es nicht. Der Angeklagte wurde vor dem Gerichtsgebäude niedergeschossen, und die leidgeprüften Opfer um Jillian standen plötzlich unter Verdacht.
D.D. hatte diesen Fall mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, insbesondere da wenige Tage nach dem Mord an dem mutmaßlichen Vergewaltiger eine andere Frau attackiert worden war. Auch in diesem Zusammenhang drängte sich ihr wieder einmal der Gedanke auf, dass die Wirklichkeit noch viel bizarrer war als jeder Krimi.
Griffin und Jillian hatten zwei Söhne im Alter von vier und sechs, wie D.D. erfuhr. Dylan, der jüngere, kam offenbar nach seinem Vater und hatte nur Football im Sinn. Der sechsjährige Sean interessierte sich seit kurzem fürs Kochen. Am Vorabend hatte er für die Familie einen Lammrücken vorbereitet.
«Mit einer Marinade aus Granatapfelsirup», erklärte Griffin stolz. «Vermute allerdings, dass seine Mom ihm dabei ein bisschen
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