Der Tag, an dem du stirbst
Samenspender, Scheckheftdiplomat. Ein toller Hecht.
Nach mir fragte er nie. So heißt es zumindest. Auch zu meiner Mutter riss der Kontakt ab, was mich ein wenig wundert. Nicht, dass er sie hat sitzenlassen, sondern dass sie ihn gehen ließ. Vielleicht hat sie ihn zu halten versucht. Aber sie war ja nur ein Mäuschen aus den Bergen und er ein Finanzjongleur aus der großen Stadt, Spross einer reichen Familie, der schon viel geerbt hatte und noch viel mehr dazuverdiente, jemand, der seinen Wert kannte und voller Selbstherrlichkeit war. Sie hatte wahrscheinlich nicht die geringste Chance bei ihm.
Ich schätze, die Cops von New York State haben sich nach dem Vorfall zuerst an ihn gewandt. In den Ausweispapieren meiner Mutter stand unter der Rubrik «Im Notfall zu kontaktieren» sein Name, allerdings ohne Telefonnummer. Die Polizei ist aber natürlich ein bisschen gescheiter als eine geistesgestörte junge Frau von fünfundzwanzig Jahren und hatte es innerhalb weniger Tage geschafft, ihn ausfindig zu machen. Er hielt sich gerade in Paris, London oder Amsterdam auf. Ich weiß es nicht mehr.
Jedenfalls verwies er die Polizei an Tante Nancy, die die Güte hatte, Verantwortung für eine Nichte zu übernehmen, der sie bislang kein einziges Mal begegnet war. Sie führte damals ein Geschäft und konnte, als die Polizei anrief, nicht einfach alles stehen und liegen lassen, und so dauerte es noch ein paar weitere Tage, bis sie die Reise aus der Wildnis von New Hampshire in die noch tiefere Wildnis im Norden des Staates New York antreten konnte.
Die Tage damals sind mir nur diffus in Erinnerung. Ich weiß noch, im Krankenhaus aufgewacht zu sein und mich gewundert zu haben, dass ich noch lebte. Und ich erinnere mich an ein Gefühl grenzenloser Enttäuschung.
Neben dem Bett saß eine Sozialarbeiterin. Sie hatte mittellange schwarze Haare, zu einer Pagenfrisur geschnitten, die ihr scharfes, kantiges Gesicht betonte. Freundlich sah sie nicht aus, geschweige denn mütterlich. Sie wirkte hart und fasste sich kurz.
Die Ärzte hatten mir den Blinddarm entfernt, vielleicht auch noch anderes. Dass ich jahrelang kleine Dosen Glas und Rattengift zu mir genommen hatte, war manchen Organen offenbar schlecht bekommen. Aber ich würde mich schnell erholen, versicherte mir die Sozialarbeiterin. Es komme alles wieder ins Lot.
Und wieder war ich tief enttäuscht.
Ich sprach mit ihr kein Wort. Auch nicht mit den Schwestern oder Ärzten. Sie hatten mich verraten. Sie zwangen mich, am Leben zu bleiben. Dafür verachtete ich sie.
Dann kam endlich meine Tante. Sie nahm mich bei der Hand, und im Nu wurde aus dem Kind meiner Mutter die Nichte meiner Tante.
Etwas Besseres ist mir nie passiert.
Tante Nancy war die sechs Jahre ältere Schwester meiner Mutter. Sie hatte kurze silbergraue Haare. Früh zu ergrauen sei typisch für unsere Familie, sagte man mir. So wie die blauen Augen und ausgeprägten Kieferknochen. Meiner Tante war es egal. So versessen meine Mutter darauf aus war, Männern zu gefallen, so versessen setzte meine Tante alles daran, sie auf Abstand zu halten.
Als ihre Eltern, also meine Großeltern, bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren – in New Hampshire empfehlen zahllose Verkehrsschilder, für Elche zu bremsen; man sollte sich wirklich daran halten –, übernahm meine Tante die Rolle der Mutter. Meine Mom war schon damals ein wildes Mädchen. Unnötig zu sagen, dass das Verhältnis der beiden zueinander schon arg strapaziert war, als meine Mom von einem reichen Bostoner Finanzier geschwängert wurde.
Die Schwestern gingen daraufhin getrennte Wege, bis eines Tages meine Tante einen Anruf erhielt und von jenem Unglück in der Familie erfuhr, von dem auch eine ihr bis dato unbekannte Nichte betroffen war.
Wie jedes Kind hatte ich für die aufopferungsvolle Leistung meiner Tante lange kein Gespür gehabt. Viele Jahre später bekam ich dann nachts selbst einen Anruf mit der Nachricht einer entsetzlichen Katastrophe und eines schrecklichen Verlustes. Und ich wandte mich ratsuchend an meine Tante, denn vor die Wahl gestellt, ob ich lieber die Tochter meiner Mutter oder die Nichte meiner Tante sein wollte, musste ich nie lange nachdenken.
Meine Tante ist tapfer. Meine Tante ist stark.
Auch ohne dass sie jemals verfluchte Glasscherben hatte fressen müssen.
Sie führte ein kleines Bed & Breakfast in den Bergen von New Hampshire, wo im Januar die Durchschnittstemperaturen bei minus sieben Grad liegen, die Mehrzahl der
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