Der Tag, an dem du stirbst
und zierlichen Dingen», trällerte sie. «Tja, Charlie, mein Schatz, aber Nettsein lohnt sich nicht. Die Welt will tapfere, brave kleine Mädchen, kleine Mädchen, die stark sind. Aus Kettchen und Ringen und zierlichen Dingen sollten sie nicht sein.»
Sie reichte mir einen ersten Löffel voll Erdnussbutter. «Hier kommt das Flugzeug. Na los, Charlie, sei ein gutes Mädchen. Mach den Mund auf. Hier kommt das Flugzeug, es fliegt geradewegs in den Hangar, brumm, brumm, brumm …»
Später erbrach ich Blut. Wir fuhren ins Krankenhaus zur Notaufnahme. Schwestern hantierten an mir herum. Der Arzt leuchtete mir mit einer Taschenlampe in die Augen. Ich hielt meinen Bauch gedrückt und wimmerte. Aber ich weinte nicht. Gute Mädchen waren schließlich tapfer. Gute Mädchen waren stark.
Schmerz. Schreckliche Krämpfe, Durchfall, mein Gesicht schweißnass, aber ich schwöre, schwöre, schwöre, nicht eine Träne rollte mir über die Wangen.
«Ich weiß mir einfach nicht mehr zu helfen», sagte meine hübsche, strahlende Mommy zu dem Arzt. «Kaum habe ich ihr den Rücken zugekehrt, steckt sie sich eine Glühbirne in den Mund. Ich frage Sie, was ist das für ein Kind, das Glühbirnen zerbeißt?»
Gute Mädchen sind tapfer. Gute Mädchen sind stark.
«Alleinerziehende Mutter zu sein ist manchmal verflixt schwer. Also wirklich, ich bin in die Küche und wollte ihr ein Erdnussbutter-Sandwich schmieren, was sie so gern isst. Vorher hatte ich Wäsche gemacht, im Wohnzimmer das ganze Spielzeug aufgesammelt und dann das Badezimmer geputzt. Und ja, eine Glühbirne war kaputtgegangen. Ich hatte sie herausgedreht, um sie zu ersetzen, wäre aber nicht im Traum darauf gekommen, dass … Es tut mir so leid, verzeihen Sie, ich wollte nicht weinen. Seit Tagen komme ich kaum zur Ruhe. Sie haben ja keine Vorstellung, wie quirlig sie ist, wie impulsiv … Und jetzt das. Wir sind nicht versichert, und, und … Verzeihen Sie, könnte ich mich eine Weile setzen?»
Gute Mädchen sind tapfer. Gute Mädchen sind stark.
Der Arzt tätschelte meiner Mutter die Schulter. Er sagte ihr, es käme schon alles wieder in Ordnung. Er habe vollstes Verständnis und sei sicher, dass sie ihr Bestes gebe.
Ich hielt meinen Bauch, drehte mich zur Seite und erbrach noch mehr Blut.
Wollte etwas sagen, mich zu Wort melden, aber meine Zunge war geschwollen, mein Gaumen schmerzte, und die Kehle brannte.
Eine Schwester wischte mir den Mund mit einem kühlen Tuch und berührte mit sanften Fingern meine Stirn. Ich starrte zu ihr auf. Dunkle Augen, dunkle Haare. Freundliches Gesicht. Ich wollte etwas sagen. Ich versuchte, meinen Mund zu öffnen. Ich musste reden. Ich musste einfach …
Nicht über die Glühbirne, nicht über die Erdnussbutter.
Ich hatte etwas anderes zu sagen. Wenn ich doch bloß kurz zu Wort käme …
Gute Mädchen sind tapfer. Gute Mädchen sind stark.
Ich öffnete den Mund.
Die Schwester wandte sich ab. Meine Mutter schien zu spüren, was mir auf dem Herzen lag. Sie blickte über die Schulter des Arztes hinweg auf mich, begegnete meinem Blick und lächelte triumphierend.
Ich erwachte im abgedunkelten Zimmer meiner Mietwohnung in Cambridge. Mein Herz raste. Die Haare waren feucht. Das graue T-Shirt klebte mir am schweißnassen Leib.
Auf der Zungenspitze lagen immer noch die Worte, die mir im Traum nicht über die Lippen gekommen waren, Worte, an die ich mich erst nach Jahren wieder erinnerte.
Das Baby weint.
Das hatte ich sagen wollen. Das waren die Worte, die so schwer auf meiner Seele lasteten, dass ich sie unbedingt dem Arzt, der Schwester oder wem auch immer anvertrauen wollte. Dabei fehlte mir jede Erinnerung an dieses Baby. Meine Mutter hatte doch nur mich.
Das Baby weint.
Hinten im Flur, dachte ich jetzt. Und für einen kurzen Moment war mir fast, als schmeckte ich einen Namen. Er war ein Hauch in der Luft, das Gespenst eines Gespenstes einer Erinnerung. Ein kleines Mädchen. Hinten im Flur. Weinend.
Ich drückte die Augen zu und presste meine Handballen auf die geschlossenen Lider, als könnte das helfen. Zu erinnern. Zu vergessen?
Ich hatte es nicht gewusst. Über all die Jahre war ich völlig ahnungslos gewesen.
Meine Mutter tat mir weh. Das wusste ich. Es ging ihr nicht gut. Tatsächlich war sie so krank, dass sie nach jenem letzten Vorfall weggebracht wurde. In eine psychiatrische Klinik, glaube ich. Ins Gefängnis wohl nicht, denn daran hätte ich mich erinnert.
Meine Mutter war jedenfalls verschwunden. Noch im
Weitere Kostenlose Bücher