Der Tag, an dem du stirbst
dritte, vierte.
Über mir schwang die Feuerleiter hin und her. Ich rannte gerade um den Absatz zwei Stockwerke tiefer herum und wusste, dass auch Stan in diesem Moment spürte, was Sache war, denn er ließ seine Waffe fallen. Sie flog dicht an meinem Kopf vorbei. Stan brauchte seine Pistole nicht mehr. Er klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest.
Was ihm aber auch nichts nützte. Ich wusste es, denn ich war es, die die Schrauben gelöst hatte, mit denen die klapprige Feuerleiter an der maroden Hauswand festgehalten wurde.
Eine Vorsichtsmaßnahme, vorsorglich in andere Vorsichtsmaßnahmen eingebaut.
Ich wog nur knapp fünfzig Kilo und war viel zu klein, um mich mit einem Riesen wie Stan anzulegen. Auf einer Feuerleiter aber, die in sich zusammenzubrechen drohte, war ich schneller unterwegs.
Plötzlich hörte ich über mir ein schreckliches Kreischen von Metall. Die Plattform im fünften Stock hatte sich von der Hauswand gelöst und neigte sich mitsamt den oberen Stiegen und Streben über die Straße. Mauerwerk und Eisenkonstruktion gingen wie ein riesiger Reißverschluss auseinander. Ping. Ping. Ping.
Stan schrie.
Metall knirschte. Andere Mieter waren aufgeschreckt und brüllten durcheinander. Die Leiter, auf der ich mich gerade befand, rückte krachend von der Wand. Ein Stockwerk über Straßenniveau. Zu Fuß würde ich es nicht mehr schaffen.
Ich sprang, kam auf und wälzte mich zur Seite weg, um nicht unter den einstürzenden Massen begraben zu werden.
Schreie. Noch mehr Rufe. Weiteres Kreischen.
Stan Miller stürzte aus dem fünften Stock auf die vereiste Straße hinab.
Die Schreie rissen plötzlich ab. Sand und dreckiger Schnee wirbelten kurz auf und legten sich wieder.
Ich kam auf die Beine, wischte mir die Augen und verspürte einen Schmerz im Sprunggelenk. Keine Zeit, sich jetzt darum zu kümmern. Leute eilten herbei. Bewohner des Hauses, die an Schreie und Schießereien gewöhnt waren, nicht aber an einstürzende Feuerleitern. Sie versammelten sich auf der Straße, kletterten aufgeregt durcheinander, fummelten an Handys herum und schüttelten die Köpfe. Wenig später fing eine Frau zu kreischen an, und bald kreischten auch all diejenigen, die Stans verrenkte Gestalt am Boden liegen sahen, mehrfach aufgespießt von spitzen Metallteilen.
Ich starrte auf den Trümmerhaufen, Stans Leichnam und die Blutlache, in der er lag.
Dann rannte ich los.
Ich schaute nicht zurück. Nicht der schreienden Frauen wegen, nicht der anschwellenden Rufe wegen. Und ich achtete auch nicht auf den Jungen, der mich fliehen sah und Alarm schlug.
Ich rannte und rannte und rannte, sosehr mein Körper auch zitterte.
Hinter der nächsten Straßenecke blieb ich kurz stehen, um meinen Beutel zu holen, den ich unter einem verschneiten Busch versteckt hatte. Gleich darauf rannte ich weiter.
21:56 Uhr.
Mir blieben noch siebzig Stunden.
Was hätten Sie an meiner Stelle getan?
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14. Kapitel
Baby Jack weinte wieder. Er fühlte sich nicht wohl und wollte, dass alle anderen an seinem Unbehagen teilhatten.
«Das hat er von mir», sagte D.D. Es war neun Uhr am Abend. Seit sie ihn von der Tagesmutter abgeholt hatte, wo er anscheinend auch schon den ganzen Tag über grantig gewesen war, maulte er, mal mehr, mal weniger. Fieber hatte er nicht. Er spuckte auch nichts aus. Trotzdem verzog er das Gesicht, ballte die kleinen Hände und strampelte mit den Beinen, als liefe er einen Marathon.
Sie hatten ihm Tropfen gegen Blähungen gegeben. Keine besonders wirksamen, wie D.D. feststellte.
«Sollen wir den Kinderarzt rufen?», fragte Alex. Er saß auf der Couch, während sie Jack im Schaukelstuhl zu beruhigen versuchte.
«Und zugeben, dass wir nicht wissen, was wir tun sollen?», entgegnete D.D.
Alex musterte sie mit seltsamem Blick. «Aber so ist es doch. Außerdem wären wir nicht die ersten jungen Eltern, die ihren Arzt aus dem Bett klingeln und mit überflüssigen Fragen behelligen. Dafür ist er doch da.»
Dass er Gefühle zeigte, war nicht oft der Fall und ließ D.D. aufmerken. Sie betrachtete seine graumelierten Haare, die er sich soeben noch gerauft hatte. Unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Er machte einen schrecklich abgespannten Eindruck, wie jemand, der seit Jahren nicht geschlafen hatte.
Sah sie auch so schlimm aus? Ihr fiel ein, dass Phil ihr an diesem Tag nicht weniger als viermal mitleidvoll die Schulter getätschelt hatte. Jetzt begriff sie endlich, warum.
«Das Baby
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