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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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nehme an, wir sind mit der Orange Line von Roxbury nach Downtown Crossing gefahren und dann in die Red Line umgestiegen, die am Harvard Square hält. Der Bahnhof von Downtown Crossing wird stickig heiß und voller Menschen gewesen sein, die, müde vom Tag und wie ferngesteuert, möglichst schnell nach Hause wollten.
    Vom Harvard Square sind wir dann wahrscheinlich über die Garden Street am verschneiten Park entlanggegangen, links ab in die Concord Avenue, am Parkplatz des Observatoriums vorbei und bis zur Madison. Vielleicht sind wir auch gelaufen.
    Ich erinnere mich nicht; mein Gedächtnis lässt mich manchmal im Stich. Das ist der Preis des Vergessens, die laufenden Kosten meiner Kindheitsbewältigung, die mich eigentlich hätten bankrott gehen lassen müssen, was aber nicht der Fall war. Irgendwie muss ich zu Hause angekommen sein. Wo hätte ich schließlich sonst landen sollen? Was hätte ich nach meiner Stippvisite in der Polizeizentrale sonst tun können?

    Ich schlief. So viel weiß ich noch. Irgendwann lag ich in meinem Bett, Tulip neben mir. Wir lagen Rücken an Rücken. Als ich aufwachte, war es acht. Ich hatte endlich wieder geschlafen, nach achtundvierzig Stunden auf den Beinen. Dankbar, dass ich nicht zur Arbeit musste, machte ich die Augen wieder zu und hatte einen verrückten Traum.
    Meine Mutter war im Hinterhof. Mit einer Schaufel. Sie grub ein Loch. Es war dunkel und gewittrig; es goss in Strömen, ein heftiger Wind fegte über den Hof. Am Boden neben meiner Mutter stand eine aufgerichtete Taschenlampe, die den herabstürzenden Regen und vom Wind aufgewirbeltes Laub beleuchtete. In regelmäßigen Abständen glänzte auch das Schaufelblatt im schwachen, gelblichen Lichtstrahl. Es ging auf und ab, auf und ab.
    Ich stand am Fenster, das ein wenig zu hoch für mich war. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um nach draußen blicken zu können. Die Waden taten mir weh, weil ich schon lange auf den Zehenspitzen stand, aber ich konnte nicht aufhören hinzusehen. Die blinkende Schaufel. Das Auf und Ab, Auf und Ab.
    Meine Mutter trug ihr Lieblingsnachthemd. Es war blass-gelb, mit winzigen blauen Blüten und grünen Blättern gemustert. Vom Regen durchnässt, klebte es ihr am mageren Leib, an den knochigen Beinen und dürren Armen, während sie, vornübergebeugt, das Loch aushob, Schaufel um Schaufel. Die langen braunen Haare hingen ihr klatschnass über die hohlen Wangen.
    Auf und ab, auf und ab.
    Das Loch wurde größer. Nicht zu groß, aber groß genug.
    Dann weinte das Baby wieder, hinten im Flur.
    Meine Mutter hörte es auch. Sie hob den Kopf. Die Schaufel schwebte in der Luft. Sie wandte sich dem Fenster zu und sah mich. Sie lächelte. Ihr geöffneter Mund war wie eine schwarze Höhle, und die Haare verwandelten sich plötzlich in zischende Schlangen.
    Ich ließ von der Fensterbank ab und taumelte zurück. Schlug mit dem Kopf vor das Teetischchen, weinte aber nicht. Ich raffte mich auf und rannte los.
    Hinten im Flur weinte das Baby.
    Ich musste vor ihr bei ihm sein.
    Unten knarrte die Hintertür. Meine Mutter betrat die kleine, schmutzige Küche mit ihren nackten, knochigen Füßen voller Lehm.
    Hinten im Flur weinte das Baby.
    Ich musste vor ihr bei ihm sein.
    Meine geballten Fäuste flogen auf und ab wie meine kleinen Knie, viel schneller als die Schaufel meiner Mutter. Ich rannte und rannte, hörte mein Keuchen und spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug. Ich rannte und rannte und rannte.
    «Charlie», trällerte meine Mutter hinter mir. «Komm raus, komm raus, wo immer du bist.»
    Hinten im Flur weinte das Baby.
    Ich musste vor ihr bei ihm sein.
    «Komm zur Mommy, Charlie. Du weißt doch … mach mich nicht böse.»
    Dann war ich zur Stelle und riss die Tür des Wandschranks auf. Keine Wiege. Kein Korb. Nur eine Kommodenschublade, die auf dem Boden stand und mit Wolldecken ausgefüttert war.
    Schritte. Gleichmäßig. Zielgerichtet. Immer näher.
    «Komm raus, komm raus, wo immer du bist.»
    Das blinkende Schaufelblatt, auf ab, auf ab, auf ab.
    Ich hob das Baby mitsamt den Decken aus der Lade und rannte zur Eingangstür. Ich stürzte hinaus in die stürmische Nacht. Pfeifender Wind. Prasselnder Regen. Gewitterleuchten am Himmel. Aber darauf achtete ich nicht. Es kümmerte mich nicht.
    «Charlie. Ich sehe dich. Charlie! Mach mich nicht böse …»
    Ich rannte geradewegs auf den Wald zu. Wusste genau, wohin. Das hatte ich so geübt. Denn ich wusste seit langem, dass ich irgendetwas tun

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