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Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Titel: Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Steen
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fahren würde, ging sie die drei Kilometer zu Fuß.
    Es war eine Freude, die Fußgängerzone zu verlassen und im Villenviertel unter austreibenden Bäumen und an blühenden Hecken entlang zu spazieren. Je näher sie der Klinik kam, desto grüner wurde die Umgebung. Zwischen den Bettenhäusern und Verwaltungsgebäuden erstreckten sich Gehölzstreifen und Rasenflächen, die von geschlängelten Pfaden durchzogen wurden.
    Irgendwann bog sie in den Fußweg ein, der an den Golf- und Sportplätzen der Uni vorbeiführte. Auf denen herrschte zu dieser Zeit reger Betrieb. Man konnte fast sagen: Hier tobte das Leben. Viele Studenten nutzten die Mittagspause, um sich auf den Rasentribünen auszustrecken und ihre Gesichter in der Frühlingssonne zu baden. Darunter waren auch etliche Liebespaare, die sich eng umschlungen hielten und den Rest der Welt vergessen zu haben schienen. Auf dem Fußballplatz flitzten Sportler mit fast perverser Lebendigkeit hin und her und feuerten sich gegenseitig an. Wohin Claudia auch blickte: Überall sah sie junge hübsche Mädchen mit glatten Gesichtern und große starke Jungs mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen. Nirgendwo schienen der Tod, das Leiden und die Schmerzen weiter entfernt zu sein als hier. Und doch gab es ein paar hundert Meter weiter diese riesige Klinik, in der all das tausendfach stattfand.
    Aber dann verdrängte Claudia den Gedanken an diesen Gegensatz wieder, denn sie hatte inzwischen gelernt, ihn mit staunender Resignation zu ertragen.
    Als sie wenig später Renés Krankenzimmer betrat, fiel sie Tanja gleich um den Hals, denn sie hatte die Schwägerin länger nicht gesehen und heftig vermisst.
    „Wie war die Fahrt?“, fragte sie.
    „Ich hatte drei Staus auf der Strecke, aber sonst war sie okay“, sagte Tanja und nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz.
    Claudia stellte ihre Einkäufe beiseite, beugte sich über René, der schon fertig angezogen auf seinem Bett lag, und küsste ihn sorgfältig auf beide Wangen. Dann musterte sie ihn. Er sah mehr denn je wie ein krankes Küken in seinem Nest aus, wahlweise auch wie ein kranker Kanarienvogel, den man gegen seinen Willen eingesperrt hatte. Seinem säuerlichen Lächeln entnahm sie, dass er heute nicht besonders gut drauf war.
    „Tanja hat mir gerade einen Vortrag gehalten, was ich alles nicht mehr essen darf“, sagte er. „Als wenn ich das nicht selbst wüsste. Sie behandelt mich wie einen Idioten. Guck dir nur mal ihr Mitbringsel an. Keine Blumen. Nein, das da.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf das Nachbarbett, in dem ein Mann mit einem verbundenen Schädel, grün-blau verfärbter Nase und völlig verschwiemelten Lippen lag, der unentwegt stöhnte, dass er sterben wolle. Genauer gesagt deutete René auf den Rollator, der zwischen den beiden Betten stand.
    „Die Frau hat einen Knall“, sagte er. „Sie hat mir einen Rollator mitgebracht.“
    „Der hat dem Toni gehört, und in den letzten drei Monaten hat er ihm gute Dienste geleistet“, sagte Tanja.
    „Was willst du mir damit sagen? Dass ich in drei Monaten auch abkratze?“
    „Nein. Dass du nicht Gefahr läufst, entkräftet zusammenzubrechen, solange ich deine Schwester bin.“
    „Das Ding kannst du gleich wieder mitnehmen, weil ich es sowieso nicht benutzen werde“, teilte er kategorisch mit.
    „Nun stell dich nicht so an. Claudia hat mir erzählt, dass du dich immer am Infusionsständer festhältst, wenn du zum Klo taperst. Also bitte.“
    „Warum hast du nicht gleich Tonis Rollstuhl mitgebracht? Dann hättest du mich da hineinverfrachten können.“
    „Das werde ich nächstes Mal auch machen, worauf du dich verlassen kannst.“
    „Dann solltest du aber damit rechnen, dass er sich ziert“, sagte Claudia. „Das macht er immer, wenn man ihm mit etwas Neuem kommt.“
    „Wem sagst du das? Ich weiß noch, wie er ein fünfjähriger Knirps war und Mutti ihm eine neue Hose kaufen wollte. Schon dass man ihm die alte wegnehmen wollte, fand er ungeheuerlich. Sie hat ihm Süßigkeiten versprochen, eine Portion Pommes, einen Kirmesbesuch … Er hat trotzdem nur Zeter und Mordio gebrüllt. Bis er den Laden wieder verlassen durfte. Ohne neue Hose, wohlgemerkt. Ich kann mich noch an sein Theater bei der Firmung erinnern …“
    „In Wahrheit liebst du mich doch“, sagte René, sie unterbrechend. „Und ich liebe dich. Weißt du noch? Als dein bayerischer Machoarsch von Mann dir das Arbeiten verbieten wollte, hab ich ihm tüchtig die Meinung gegeigt.“
    Tanja

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