Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
Gruppenmitgliedern aber mehr negative als positive Geschichten zu Ohren, und das war kein Wunder. Wer zu ihnen stieß, hatte meist Schlimmes durchgemacht oder musste mit etwas Schlimmem fertig werden, das die Gegenwart oder die Zukunft betraf.
Deshalb fand Tanja gleich nach dem Kennenlernen einen Draht zu anderen. So burschikos sie sich nach außen hin immer gab: Auch für sie war Trauer und Trauerbewältigung lange Zeit das Hauptthema gewesen. Aber sie hatte sich nach Tonis Tod nie einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Vielleicht konnte sie es auch nicht, weil sie zu viel um die Ohren hatte. Jetzt, wo sie endlich auf Gleichgesinnte traf, war es wie ein Dammbruch. Je länger sie sich mit Chrissi, Olli und den anderen unterhielt, desto mehr öffnete sie sich, und am Ende bekam das, was sie sagte, fast einen philosophischen, um nicht zu sagen: religiösen Touch.
Claudia hörte ihr gebannt und bewegt zu. So hatte sie die Schwägerin noch nie erlebt.
Und wer kam später plötzlich mit seinem Rollator zur Tür herein und lächelte erschöpft, aber stolz wie Oskar in die Runde? René!
Claudia fiel ihm um den Hals, rückte einen Stuhl an den Tisch heran und fragte ihn, wie es zu seinem plötzlichen Sinneswandel in puncto Rollator gekommen sei.
„Ich musste mir halt eingestehen, dass ich nicht mehr so kann, wie ich will“, sagte er.
„Hört, hört“, sagte Tanja.
„Bist du etwa die fünf Kilometer etwa zu Fuß gelaufen?“, fragte Claudia.
„Nein, bis zum Eingang der Fußgängerzone hab ich ein Taxi genommen. Ich geb’s nicht gern zu, aber das Ding ist tatsächlich eine Erleichterung. Man kann sich zwischendurch mal hinsetzen und verschnaufen.“
Er wollte noch mehr über seine abenteuerliche Tour erzählen, aber in diesem Moment standen Chrissi und Olli auf, fassten sich an die Hände und sahen die anderen freudestrahlend an.
„Entschuldige, dass wir dich unterbrechen, René“, sagte Chrissi. „Aber wir müssen euch etwas Wichtiges mitteilen.“
Natürlich ahnten alle, was jetzt kam, aber sie ließen die beiden gewähren.
„Olli und ich haben uns verlobt“, sagte Chrissi, schlang den Arm um seine Taille und klopfte mit der anderen Hand auf seinen Bauch. Der war in letzter Zeit ziemlich rundlich geworden.
„Die meisten von euch haben sicher schon mitbekommen, dass ich Chrissi seit Jahren meine Liebesdienste anbiete“, sagte Olli. „Doch zu meinem Bedauern hat sie immer abgelehnt.“
„Aber beim letzten Lebersymposium ist es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen“, sagte sie. „Ich liebe diesen Mann, und wahrscheinlich hab ich es schon immer getan.“
Als Olli sie dann noch umarmte und küsste, jagte Claudia ein wohliger Schauer über den Rücken. Diese Szene war ganz nach ihrem Geschmack, und sie wollte sie bis zum Letzten auskosten.
„Das mit euch wundert mich kein bisschen“, sagte sie schließlich. „Das hat doch ein Blinder gesehen, dass da was läuft. Ihr hattet immer diese Aura zwischen euch, so eine Art Leuchten … Ihr habt es lange Zeit nur nicht wahrhaben wollen.“
„Doch, wir haben schon gespürt, dass die Chemie zwischen uns stimmt“, sagte Chrissi. „Sagen wir einfach: Es hat gut gepasst mit uns beiden, und zwar von Anfang an. Das war eben ein Glücksfall.“
Danach redeten alle durcheinander, gratulierten dem glücklichen Paar und wünschten ihnen alles Gute für die Zukunft. Anschließend gab es eine Runde alkoholfreies Bier für alle.
„Also, ihr Lieben, zwischen Leber und Milz passt immer noch ein Pils“, sagte Olli, und als sie ihre Krüge an die Lippen setzten, um auf das Brautpaar zu trinken, fühlten sie sich fast wie normale gesunde Leute, die etwas zu feiern hatten.
Aber eben nur fast .
Kapitel 14: Vor drei Jahren
René mochte nicht mehr. Er hatte das alles so satt. Die ständigen Schmerzen. Den seelischen Druck. Die 18 Stents, die ihm unterm Strich etwa 35 OPs eingebracht hatten. Seine zerstochenen und vernarbten Venen, die sich kaum noch anzapfen ließen. Die Sonden und Schläuche, die durch alle Körperöffnungen in ihn hineingetrieben worden. Die Blutvergiftungen. Die Bauchspeicheldrüsenentzündungen. Seinen ewig rebellierenden Magen und den triefenden Hintern. Die Nebenwirkungen der Medikamente, die allein schon ausreichten, um ihn Tag für Tag umzuhauen. Die Tatsache, dass er auf die Transplantationsliste wollte, es aber nicht kam, sodass er weiter auf dem Abstellgleis ausharren musste. Den perversen Wunsch, dass es ihm
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