Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
Wahrscheinlich würde das nicht passieren. Claudi konnte sehr eigensinnig sein, wenn sie sich erst mal an einer fixen Idee festgebissen hatte. Sah man ja an den hammerharten Horror- und Schlitzerfilmen, die sie sich neuerdings jeden Tag reinzog.
Claudi, ach Claudi, was machst du bloß?, dachte er.
Gegen neun Uhr quälte er sich aus dem Bett, ging ins Bad und sah ein letztes Mal in den Spiegel. Ein Fremder blickte ihn an. Sein Gesicht war zerklüftet, quittegelb und voller Blutergüsse. Er sah völlig abgehärmt, geradezu armselig aus. Außerdem hatte er jede Menge graue Strähnen auf dem Kopf. Früher hatte Claudi immer behauptet, dass sein Haar wie ein Kornfeld in der Abendsonne glänzte und wogte. Nun, die Zeiten waren lange vorbei. Sein Gesicht und sein Körper waren inzwischen zum Notstandsgebiet verkommen. Das Einzige, was er weiter an sich mochte, waren seine Augen. Von denen sagte Claudi immer, dass sie wie ein sonnenlichtbetupfter Waldsee schimmerten.
Ansonsten fand er sich aber potthässlich. So gelb, blaurot, fremd und gruselig, wie der Typ im Spiegel aussah, hätte er glatt in einer Monstrositätenschau auftreten können. Das Publikum hätte Bauklötze gestaunt. Oder sich schiefgelacht.
Das war nicht mehr er. Er war nicht mehr er. Deshalb sagte er dem hässlichen Fremden Lebewohl, zog sich an und machte sich mit dem Rollator als Stütze auf seinen letzten Weg.
Allerdings musste er gleich auf der Straße wieder umkehren, denn er hatte vergessen, Claudi einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Also betrat er die Wohnung erneut, ging ins Arbeitszimmer und nahm einen Füllfederhalter und ein Blatt Papier zur Hand. Ein, zwei Minuten lang überlegte er, dann schrieb er:
„Liebe Claudi,
du hast mich so glücklich gemacht. Aber ich kann nicht mehr. Bitte verzeih mir das, was ich gleich tun werde.
Dein René“
Eine reichlich dürre Erklärung, aber er konnte nicht länger daran herumfeilen, weil die Zeit ihm im Nacken saß. Also faltete er das Blatt zusammen, drückte einen letzten Kuss darauf und platzierte es auf Claudis Kopfkissen. Danach verließ er schweren Herzens das totenstille Haus.
Den direkten Weg, der von der Kunstakademie aus Richtung Turm führte, traute er sich nicht mehr zu, denn der war zu steil. Also wählte er den längeren, flacheren Umweg, der an einem Ausflugslokal vorbei und dann auf einem Waldpfad bis zum Ziel führte.
Es dauerte über eine Stunde, bis er die Steigung erklommen hatte, und das lag nicht nur daran, dass er nur langsam vorankam. Nein, er wollte seinen letzten Tag auch ausdehnen, so lange es eben ging. Diesen wunderschönen Altweibersommertag mit seinem lichtblauen Himmel, den goldenen Sonnenstrahlen und dem Tau auf dem raschelnden Buchenlaub. Diesen abschließenden Tag seines Leben, der etwas ganz Besonderes war und doch verging wie jeder andere Tag auch.
Als er das Lokal erreicht hatte, schloss er seinen Rollator an einen Fahrradständer und ging den Rest des Weges ohne diesen Halt weiter.
Als er am Turm ankam, war er kreislauf- und kräftemäßig am Ende und sah vermutlich wie ein Gespenst aus. Sein Herz raste, der Schweiß lief ihm in Strömen über die Stirn und in die Augen, und sein Körper bebte wie unter Strom. Entsprechend komisch blickte der Kassierer ihn auch an. Aber letztlich sparte der Mann sich jeden Kommentar, nahm Renés Eintrittsgeld entgegen und reichte ihm seine Einlasskarte.
Es war fast unmöglich, die unzähligen Stufen bis zur Zinne hochzuklettern. Unterwegs musste er ständig anhalten, weil seine Lungenflügel wie rasend nach Luft schnappten. Es kam ihm vor, als würde er einen Achttausender besteigen. Ohne Sauerstoffgerät, wohlgemerkt.
Es half alles nichts: Auf halber Strecke musste er eine längere Pause einlegen und sich in einem Seitenraum unter der Bronzebüste Moltkes erholen. Jetzt beruhigte sich sein Hechelatem zwar wieder, dafür spürte er aber den strengen Blick des Generalfeldmarschalls wie eine Faust im Nacken.
Da fielen ihm Sergeant Meyer und seine Durchhalteparolen wieder ein: Niemals aufgeben! Niemals die Waffen strecken! Niemals die Hoffnung verlieren! Immer fest daran glauben, dass man auch in einer schier aussichtslosen Lage zu großer Form auflaufen und Misserfolge in Erfolge verwandeln kann.
Zum Teufel mit den Militärfuzzis dieser Welt!, begehrte er auf. Die hatten doch keine Ahnung. Die wussten nicht, wie es war, wenn der Feind keine fremde Macht, sondern das eigene Immunsystem war, und wenn die Schlacht nicht
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