Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
zwischen zwei klar erkennbaren Frontlinien, sondern im eigenen Körper stattfand und von vornherein verloren war.
Irgendwann stand er auf, salutierte ein letztes Mal stumm und starr vor Moltkes Büste und ächzte dann weiter Stufe für Stufe und Absatz für Absatz die Treppe zum Himmel hinauf. Jetzt war er wirklich am Ende seiner Kräfte, aber da er früher Marathon gelaufen war, besaß er eine gewaltige Portion Entschlusskraft und konnte auch noch die allerletzten Energiereserven in sich zusammenkratzen.
Sein Abflug in die unbekannte Welt sollte nicht daran scheitern, dass er die Abflugrampe nicht erreichen konnte.
Einen Moment lang überlegte er noch, ob er diese letzte Kraft, diese restliche Energie nicht besser in sein Leben stecken sollte statt in seinen Tod. Aber dann verdrängte er diesen Gedanken wieder.
Wenn es vorbei war, war es vorbei.
Kaum war er oben angekommen, ließen die Kreislaufattacken, die Gelenkschmerzen und das peinigende Gefühl im rechten Oberbauch plötzlich nach. Das war wie beim Zahnarzt: Sobald man auf dem Stuhl saß, war plötzlich alles wieder gut. Aber davon ließ René sich nicht täuschen. Die Schmerzen würden wiederkommen, und zwar in hundert- und tausendfacher Verstärkung.
Er trat an die Westseite der Zinne, ließ seinen Blick über den flachen Talkessel der Stadt gleiten, roch die würzige Herbstluft, spürte den Wind in seinen Haaren und das Sonnenlicht auf seinem Gesicht … Da unten waren die Dächer der Schlegelterrassen zu sehen. Er konnte sogar Claudis und sein Haus und die Fenster ihrer Wohnung erkennen.
Dann blickte er sich suchend um. Ob es hier oben eine Überwachungskamera gab? Er konnte keine entdecken. Aber letztlich war es auch egal. In wenigen Sekunden würde es vorbei sein. Daran konnte auch der Kassierer nichts mehr ändern.
Also schwang er sein Bein auf die Betonbrüstung, schob es langsam Richtung Abgrund und versuchte sich mit den Armen hochzustemmen. Aber die taten sich schwer, seinen ausgemergelten Körper hochzuhieven und in die richtige Position zu bringen. Dabei hatte er erwartet, dass schon die nächste Windböe ihn mitnehmen würde, abgemagert, wie er war. Aber nichts da. Sein Oberkörper klebte an der Brüstung fest und wollte sich partout nicht rangieren lassen. René zog und schob und stemmte mit aller Kraft, bis sich endlich etwas rührte. Ja, jetzt noch mal ein bisschen nachjustieren, und dann …
Es ging nicht! Es ging einfach nicht! Er beugte sich vor und warf einen Blick in den Abgrund. Die schroffen Mauern und die Vogelperspektive schreckten ihn nicht. Die Jahre als Kletterer hatten ihn gegen Schwindel- und Panikattacken abgehärtet. Aber in dieser Situation brach ihm doch der kalte Schweiß aus.
Sieh zu, lass dich endlich fallen, sagte eine innere Stimme zu ihm. Dann hast du es hinter dir. Der Sinn des Lebens ist, dass es endet.
Er wollte es ja tun, jetzt sofort. Aber dann auch wieder nicht.
Claudi wird so grausam allein sein, wenn ich nicht mehr da bin, sagte er.
Aber sie wird weiterleben, sagte die Stimme. Niemand schneidet ihren Körper mehr auf, und niemand bringt sie in Gefahr, auch sie selbst sich nicht.
Meine Lebensversicherung wird nicht zahlen, wenn ich springe, sagte René.
Na und?, sagte die Stimme. Claudi ist eine toughe Frau, die für sich selbst sorgen kann. Sie braucht dein Geld nicht.
Ich schaff es trotzdem nicht, sagte er.
Du stirbst doch sowieso, sagte die Stimme. Die Krankheit hat dich vernichtet, dein Körper ist zerstört, und es gibt keine Hoffnung mehr, dass sich das jemals ändern wird. Worauf wartest du? Ein letzter Schritt noch, dann bist du frei.
Selbstmord ist eine Sünde, für die ich in der Hölle schmoren werde, sagte er.
Du glaubst doch sonst auch nicht an das Fegefeuer oder das Jüngste Gericht, sagte die Stimme. Genauso wenig wie du an den Himmlischen Vater oder das ewige Leben glaubst.
Aber was ist, wenn ich nicht mehr da bin?, fragte er.
Was soll schon sein!?, sagte die Stimme. Nichts ist. Du bist nur ein Fliegenschiss in der Unendlichkeit. Auch wenn du stirbst, wird die Erde weiter um die Sonne kreisen, und der Mond wird ihr folgen. Und du schwebst im Universum, wo es keine Schmerzen mehr gibt und keine Angst.
Ich bin ein Mörder, wenn ich es mache, sagte er.
Du bist ein Opfer, wenn es passiert, sagte die Stimme.
Ich hab furchtbare Angst, sagte er.
Sterben ist gar nicht so schwer, sagte die Stimme. Bisher hat es noch jeder geschafft. Mein Tipp: Augen zu und durch.
Lass mich erst
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