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Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Titel: Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Steen
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ein bisschen verschaufen, sagte er.
    Wozu?, fragte die Stimme.
    René wischte sich über die Stirn.
    Wird’s bald?, fragte die Stimme. Beende das Spiel, und zwar sofort!
    Also gut, ich mach’s, sagte er.
    Bye-bye, Doktor Sommerfeldt, sagte die Stimme. Thank you. Enjoy the show.
    René wollte mit dem Mut der Verzweiflung weiterklettern. Doch dann schrie etwas in ihm: Halt! Halt! Halt! , denn er hatte im Treppenhaus ein Geräusch gehört. Jemand stieg langsam und mit schweren Schritten die letzten Stiegen zur Zinne herauf.
    Himmeherrgodnoamoi-Kruzefixhalleluja-Sakrament! Sonst war hier um diese Zeit nie was los, und ausgerechnet heute … Offensichtlich wollte es ihm das Schicksal so schwer wie möglich machen.
    Nicht mal in Ruhe umbringen konnte er sich.
    Zwei leberfleckige Hände erschienen in der Luke des Eingangsbereichs und suchten tastend nach Halt. René stand regungslos da und starrte sie an. Ein älterer Herr mit Blindenabzeichen am Oberarm arbeitete sich langsam aus der Öffnung hervor und bewegte sich dann mit unsicheren Schritten auf den Rand der Zinne zu. Etwa drei Meter neben René blieb er stehen, hielt seine Nase in den Wind und atmete ein paar Mal tief aus und ein. Schließlich glitt ein feines Lächeln über seine Lippen.
    „Hier oben ist die Luft so anders“, sagte er.
    René zuckte zusammen. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass der Mann ihn registriert hatte. Dann räusperte er sich und fragte: „Meinen Sie mich?“
    „Aber ja“, sagte der Mann, drehte den Kopf in seine Richtung und sah ihn blicklos an. „Sonst ist doch niemand hier. Sind Sie so gut und beschreiben mir die Landschaft? Mit meiner Sehkraft ist es nicht mehr weit her. Aber ich freu mich über alles, was ich noch nicht kenne. Wie sieht der Himmel heute aus?“
    Verdammt, jetzt wollte der Kerl auch noch Konversation machen. Das hatte René gerade noch gefehlt. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu antworten.
    „Blau, sonnig und klar“, sagte er. „Richtung Süden hängen ein paar Schäfchenwolken am Horizont.“
    „Kann man den Großen Marsner erkennen?“
    „Ja, dahinten. Er wirkt heute nicht so fern wie sonst. Muss wohl an der Herbstluft liegen.“
    „Meine Tochter hat mir davon erzählt. Sie steht übrigens unten und wartet auf mich. Aber sie traut sich nicht hoch: Höhenangst. Leiden Sie auch darunter?“
    „Nein.“
    „Wie schön. Können Sie Burg Wörre sehen?“
    „Nur den äußersten Zipfel vom Fahnenmast. Sie selbst liegt hinter der nächsten Bergkuppe.“
    „Muss ein toller Anblick sein. Herrliche Gegend hier. Da kommen so alte Erinnerungen an meine Modelleisenbahn hoch. Als Kind war ich Eisenbahner mit Leib und Seele. Meine Platte war fünf mal sieben Meter groß. Die Landschaft hab ich aus Pappmaschee zusammengeleimt. Aber so schön wie in natura hab ich’s nicht hinbekommen. Der Himmel und die Weite haben gefehlt und die Sonnenaufgänge. So wie hier oben … ja, so hab ich’s mir damals ungefähr vorgestellt.“
    Während der Mann sich weiter über Hügel und Wälder, Ortschaften und Dächer, Burgen und Schlösser ausließ, versuchte René sein Bein von der Brüstung zu zerren. Aber sein Schuh hatte sich dermaßen in einer frei gewitterten Metallstrebe des Betons verkeilt, dass er ihn nur mit viel Geschiebe und Gezerre wieder herunterholen konnte. Als der Absatz über den rauen Untergrund kratzte, drehte der blinde Mann den Kopf herum und „sah“ ihn an. Aber er sagte nichts dazu, sondern fuhr fort, von der Landschaft zu schwärmen. Bis er irgendwann genug Luft und Sonne getankt hatte und sich verabschiedete.
    Als er schon mit dem Oberkörper in der Luke verschwunden war, fragte René plötzlich: „Sind Sie wirklich blind?“
    „Ja, ich hab Diabetes. Aber ich seh mit den Ohren.“
    Da sagte René zu seiner eigenen Überraschung: „Ja, so etwas gibt’s. Meine Frau zum Beispiel sieht mit den Händen, und das ist mein Glück.“
    Als er wieder allein auf der Zinne war, hätte er sein Vorhaben eigentlich vollenden können. Theoretisch zumindest. Und praktisch auch. Aber er stand nur da und ließ die Umgebung auf sich wirken. Das Ziegelrot der Dächer und das Gold der Buchen schienen das weiche Sonnenlicht noch zu unterstreichen. Spätsommerliche Gerüche umschwebten seine Nase und erinnerten ihn an abgeerntete Felder, reife Früchte und sprudelnde Bäche, durch die er mit nackten Füßen waten konnte. In der Ferne hörte er ein Motorrad aufheulen. Es klang nach Freiheit und Abenteuer, wie

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