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Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte

Titel: Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Steen
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ein Lockruf, wie Sirenengesang …
    Da musste er sich eingestehen, dass es völlig unmöglich war, sich von einem Turm fallen zu lassen, wenn man fünf Minuten vorher mit einem älteren Herrn über Spielzeugeisenbahnen, Pappmascheelandschaften und Sonnenaufgänge gesprochen hatte. Das war wie ein Sehnsuchtstrip in die eigene Kindheit. Er hatte früher selbst eine Modelleisenbahn besessen, mit der er sich erfindungsreich und nimmermüde seine eigene Welt zusammenbaute und -träumte.
    Ein letztes Mal überlegte er, ob er die Sache nicht doch durchziehen sollte, zumal er so einen Kraftakt nicht noch mal hinbekommen würde. Aber nein, es ging nicht mehr, nicht heute und jetzt. Ausgeschlossen.
    Der Kassierer schien sehr erleichtert zu sein, ihn lebend wiederzusehen, denn als er ihn zu Gesicht bekam, entspannten sich seine Züge sichtlich. Da René kurz vorm Losheulen war, verabschiedete er sich rasch von ihm und verließ das Gebäude. Erfreulicherweise waren der blinde Mann und seine Tochter schon weg. Er hätte es nicht ertragen, ihm noch mal unter die Augen oder besser gesagt: unter die Ohren zu treten.
    Auf dem Rückweg Richtung Schlegelterrassen nahm er den Trampelpfad durch den Wald, denn der war kürzer und ging überwiegend bergab. Erschöpft, aufgewühlt und unkonzentriert, wie er war, stolperte er dauernd über irgendwelche Baumwurzeln oder schlitterte mit den Schuhsohlen ein Stück den Hang hinab. Dabei dachte er unentwegt: Stehen ein Blinder und ein Lahmer auf einem Turm, stehen ein Blinder und ein Lahmer auf einem Turm …
    Auf halber Strecke fiel ihm ein, dass er seinen Rollator am Ausflugslokal vergessen und nun keine Möglichkeit mehr hatte, an ihn heranzukommen. Er hatte den falschen Weg gewählt, wieder mal. Da schlug er sich seitlich ins Unterholz, warf sich aufheulend in einen Haufen welker Blätter und rollte sich dort wie ein Fötus zusammen. Minutenlang lag er so da und weinte, dass es seinen Körper wie ein Erdbeben erschütterte.
    Er war so froh, dass er es nicht getan hatte. Sonst hätte er nie mehr Claudis Atem im Bett nebenan hören, nie mehr ihre Haare streicheln und sich nie mehr vor ihrer schrecklichen Unvernunft fürchten können. Sonst hätte er nie mehr gespürt, dass sie seine allerbeste Freundin war, die einzige, die er jemals gehabt hatte, die einzige, die er jemals haben würde, und die einzige, die ihn aus tiefster Seele berührte. Sie war das größte Geschenk, das er je bekommen hatte, und er konnte es hören, fühlen, schmecken, riechen, jeden einzelnen Tag … Und das hätte er beinahe weggeworfen.
    Die Erleichterung floss wie ein breiter und kräftiger Strom aus ihm heraus, und in gleichem Maß fluteten der Schmerz und das Verlangen nach Leben wieder in ihn hinein. Aber diesmal kamen sie in großen und weichen Wellen und wirkten wie zwei gute alte Bekannte, mit denen man sich zusammensetzen und ein bisschen plaudern konnte.
    Wie ist es?, fragte die beiden im Chor. Wollen wir noch ein paar Tage dranhängen?
    Ich hab eine Scheißangst, ich hab die Hosen voll, aber … ja, lasst es uns tun, sagte er.
    So blieben sie noch eine Weile auf dem Waldboden liegen und sprachen miteinander, bevor sie sich gemeinsam auf den Heimweg machten.
    Unterwegs schaltete René seinen Verstand wieder ein und sagte sich, dass er es beinahe vermasselt hätte. Claudi durfte nie, nie, nie etwas davon erfahren. Sonst würde sie selbst die Reise ins Nirgendwo antreten, und sie war bestimmt nicht so ein Weichei wie er. Was sie sich vorgenommen hatte, zog sie auch durch. Das bewies sie ihm schon seit Jahren.
    Hoffentlich würde die Zukunft so schnell wie möglichst die Gnade des Vergessens über den Vorfall legen.
    Das neue Gefühl hielt etwa eine Viertelstunde lang an. Dann betrat er zu Hause den Flur und sah als Erstes den blinkenden Anrufbeantworter neben der Garderobe. Auf dem Display erkannte er die Nummer der Klinik. Er seufzte. Offensichtlich war das Spiel noch nicht zu Ende. Ganz sicher war das Spiel noch nicht zu Ende. Wenn die sogar sonntags anriefen, hatte das nichts Gutes zu bedeuten.
    Nachher würde er die Nachricht abhören. Aber erst mal musste er seinen Abschiedsbrief vernichten, bevor Claudi ihn in die Finger bekam. Er holte ihn, zerriss ihn in Fetzen und spülte ihn dann im Klo herunter.

Kapitel 15: Vor einundzwanzig Monaten
     
    „Ja, wo ist der Papa? Ja, wo ist er denn? Ja Mia, guck! Da ist er, da!“
    René sah nach oben. Seine kleine Maus schwebte wie ein Engel über ihm. Während sie

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